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Was ist Plattformmacht?

Dr. Michael Seemann

Wir alle nutzen sie jeden Tag: Plattformen. Ebay, Instagram, Uber, Wolt, AirBnB … Plattformen sind nützlich, weil sie Kommunikation, Koordination und Transaktionen organisieren und so alle möglichen Aufgaben erleichtern. Aber wenn wir ehrlich sind, fühlen wir uns von ihnen auch oft auf unangenehme Weise abhängig. Im folgenden Artikel erläutere ich verschiedene Aspekte der Plattformmacht und deren Auswirkungen.

Plattformen haben Macht. Das ist ein Gemeinplatz, auf den sich alle einigen können. Doch häufig wird gestritten, welche Art von Macht sie haben. Da gibt es zum Beispiel die wirtschaftliche Macht. Plattformunternehmen verfügen oft über viel Geld und Ressourcen, um ihre Vorstellungen umzusetzen. Darüber hinaus besitzen sie Marktmacht. Häufig werden Plattformunternehmen als Monopole oder mindestens als marktdominierende Akteure beschrieben und problematisiert. Und schließlich haben Plattformen Datenmacht. Sie sammeln unzählige Daten über uns, unser Verhalten und über die Gesellschaft als Ganzes. Dazu kann man ihnen zunehmend auch politische Macht unterstellen. Sie unterhalten eine der größten Gruppen an Lobbyisten in Brüssel und Washington, und über ihre Algorithmen können sie oft auch politische Diskurse beeinflussen.

All diese Analysen sind richtig. Doch mir scheint, dass diese Felder der Macht selbst nur die Effekte einer ganz anderen Macht sind. Plattformen – so meine These – haben eine eigene, ganz spezifische Macht, und all die anderen Formen der Macht resultieren aus ihr.

Plattformmacht

Ich spreche von „Plattformmacht“ (Seemann 2021): eine Macht, die in dieser Form nur Plattformen haben und ausüben und die sich nur aus ihrer ganz speziellen Struktur heraus erklärt.

Plattformmacht besteht aus zwei Teilen:

  1. Netzwerkmacht, die Individuen, Institutionen und andere Teilnehmende in die Plattform zieht und sie an sich bindet.
  2. Kontrolle, die es Plattformbetreibern erlaubt, Einfluss auf alles zu nehmen, was auf der Plattform passiert.

Netzwerkmacht ist eigentlich nur ein anderer Name für „Netzwerkeffekte“. Dieser Begriff aus den Wirtschaftswissenschaften beschreibt den Effekt, dass Akteure immer das Netzwerk bevorzugen, in dem die meisten anderen Akteure sind. Man kennt das: Ein Social Network, bei dem niemand ist, ist nicht sehr attraktiv. Nur ein Netzwerk, in dem ich mit anderen kommunizieren kann, hat einen Wert für mich. Der Wert eines Netzwerks hängt also unmittelbar mit seiner Größe zusammen.

Dieser Effekt lässt sich aber auch als eine Form der Macht beschreiben (Grewal 2008). Meine Entscheidung, dem einen oder dem anderen Netzwerk beizutreten, ist nicht völlig frei, sondern wird stark durch die Netzwerkeffekte beeinflusst. Gleichzeitig ist es schwer, ein Netzwerk zu verlassen, in dem ich bereits viele Beziehungen aufgebaut habe. Dieser Effekt wird auch „LockIn“ genannt, weil er einen in gewisser Weise einsperrt. Netzwerkeffekte ziehen also Menschen in ein Netzwerk und halten sie dort. Daher kann man auch von „Netzwerkmacht“ sprechen.

Wir kennen Netzwerkmacht aber nicht erst seit digitalen Plattformen. Die meisten von uns haben Englisch als erste Fremdsprache gelernt. Das liegt unter anderem daran, dass es so nützlich ist, Englisch sprechen zu können, denn Englisch wird von den meisten Menschen auf der Welt gesprochen. Die Netzwerkmacht der englischen Sprache, so könnte man sagen, ist größer als die der französischen.

Netzwerkmacht gibt es überall in unserem Leben. Gesten, Sprachen, Gebräuche – sie alle haben Netzwerkmacht, denn sie sind darauf angewiesen, dass genug andere Menschen sie erkennen und interpretieren können. Auch Plattformen haben Netzwerkmacht. Doch während niemand in der Lage ist, allein Sprachen, Gesten und Gebräuche zu steuern, sie zu verändern oder Leute davon auszuschließen, können Instagram und Uber bestimmen, wer bei ihnen mitmachen darf und was jemand dort tun kann.

Hier kommt der zweite Faktor der Plattformmacht zum Tragen: die Kontrolle. Plattformen sind technische Infrastrukturen, die ihren Betreibern eine Menge Möglichkeiten einräumen, Kontrolle auszuüben. Allein durch die Ausgestaltung der Features können Plattformen bestimmen, welche Dinge auf ihnen möglich sind und welche nicht. Sie haben auch die Möglichkeit, mittels der Such-, Empfehlungs- oder Matchingalgorithmen zu steuern, welche Interaktionen auf der Plattform passieren. Und sie können auch entscheiden, bestimmte Personen von der Nutzung auszuschließen oder deren Interaktionsmöglichkeiten zu reduzieren. Kombiniert man beides – Netzwerkmacht und die Möglichkeit, Kontrolle auszuüben –, entsteht eine neue Form von Macht: die Plattformmacht.

Die Graphnahme

Jede Plattform steht zunächst vor einer Herausforderung: Um für Nutzende attraktiv zu sein, muss die Plattform Netzwerkmacht erlangen. Um diese zu erlangen, muss sie Nutzende anlocken. Es ist ein Henne-Ei-Problem, das nur schwer zu lösen ist. Plattformen haben das Problem in der Vergangenheit so gelöst, dass sie sich bereits existierende Netzwerke einverleibt haben. So hat Google sich über das World Wide Web gelegt, WhatsApp hat durch den Upload der Adressbücher seiner Nutzenden deren Kontakte importiert, Uber warb zunächst gezielt Taxifahrer ab, und Facebook ist am Anfang von Campus zu Campus gezogen und hat die Studierenden der Eliteuniversitäten motiviert, auf die Plattform zu kommen.

Den Trick, schon existierende Netzwerke in die eigene Plattform zu integrieren, um sie zur Grundlage des eigenen Netzwerkwachstums zu machen, nenne ich „Graphnahme“. Eine solche Graphnahme gewinnorientierter Plattformen könnte auch dem Gesundheitsbereich drohen. Ein denkbares Szenario dafür habe ich an anderer Stelle entwickelt (Seemann 2022).

Die Politik der Plattformen

Nach der Graphnahme ist eine Plattform nicht nur attraktiver für Außenstehende, sondern sie hat auch eine Gemeinschaft unter ihre Regeln gestellt. Wie die Landnahme ist die Graphnahme ein Akt der politischen Ordnungsgebung (Schmitt 1950). Das macht Plattformen zu politischen Institutionen: Jede Plattform wirkt politisch nach innen – meistens über Moderationsprozesse (Netzinnenpolitik) – und nach außen, weil sie sich mit anderen mächtigen Institutionen, wie anderen Plattformen oder Staaten, ins Benehmen setzen muss (Netzaußenpolitik).

Man kann heutige Politik nicht mehr verstehen, ohne die Politik der Plattformen ernst zu nehmen. Googles früheres Engagement in China, Facebooks Einfluss auf die US-Wahlen, Elon Musks Kauf von Twitter: Plattformen sind politisch, auch wenn sie lange einen anderen Eindruck erwecken wollten. Schon die Übernahme eines Vernetzungszusammenhangs selbst ist ein politischer Akt. Man stelle sich vor, eine private Plattform könnte eine ähnliche Kontrolle über das Gesundheitssystem erlangen.

Das Geschäftsmodell

Die Plattformmacht begründet aber nicht nur politische Ordnungen, sondern ist auch Grundlage aller Geschäftsmodelle von Plattformen. Jedes Plattformgeschäftsmodell verwendet auf die eine oder andere Weise Netzwerkmacht und Kontrolle als Hebel, um bestimmte Nutzergruppen zum Zahlen zu bewegen – sei es durch die Begrenzung des Zugangs zu Features oder durch Begrenzung des Zugangs zu anderen Nutzenden. Das ist offensichtlich, wenn etwa Uber und AirBnB Vermittlungsprovision kassieren, oder Amazon Gebühren von Händlern nimmt. Doch auch das Werbegeschäftsmodell ist nur der Wegzoll, den Werbekunden an die kommerziellen Plattformen zahlen, um die Nutzerschaft erreichen zu dürfen.

Enshittification

Für die gewinnorientierten Plattformen ergibt sich hier ein Widerspruch. Auf der einen Seite will eine Plattform immer wachsen, denn Wachstum ist der Weg, um Plattformmacht und damit Nützlichkeit zu erlangen – dafür muss sie sich möglichst offen geben und allen Zugang zu allem gewähren. Auf der anderen Seite will eine Plattform in der Regel auch Geld verdienen – dafür muss sie Zugänge schließen und begrenzen, denn sonst zahlt niemand Wegzoll. Diese widersprechenden Dynamiken führen dazu, dass jede Plattform mehrere Phasen durchläuft.

In der frühen Phase, also kurz nach der Graphnahme, ist eine Plattform auf Wachstum ausgerichtet. In dieser Phase versuchen die Plattformen für alle so nützlich wie möglich zu sein, um Plattformmacht zu erlangen. Erst wenn viele Leute auf die Plattform geströmt sind und sich in ihr eingerichtet haben, findet die Plattform ihr Geschäftsmodell. Die Plattform bestimmt die Engstellen, an denen sie Wegzoll nehmen will, und beginnt sie nach und nach zu schließen. Während das Wachstum abflacht, werden die Zugänge immer weiter geschlossen bzw. an immer mehr Stellen werden Wegzölle verlangt. In der nächsten Phase geht es der Plattform dann nur noch darum, den größten Profit aus der immer abhängigeren Community zu extrahieren. Die Möglichkeiten für die Nutzenden werden immer weniger, der Nutzen wird immer geringer, die Nutzung immer teurer. Der Science-Fiction-Autor Cory Doctorow und die Netzaktivistin Rebecca Giblin haben für diesen Prozess den Namen „Enshittification“ gefunden (Giblin & Doctorow 2022).

Die Ambivalenz der Plattformen: Nutzen ist Macht

Es ist ungemein schwer, Menschen dazu zu bewegen, einen gemeinsamen Standard zu etablieren. Man spricht in der Soziologie vom „Problem kollektiven Handelns“ (Olson 1965). Ist ein gemeinsamer Kommunikationsstandard erst einmal etabliert, profitieren alle Kommunikationsteilnehmerinnen und -teilnehmer davon. Das ist das große Verdienst von Plattformen. Man darf deswegen nicht vergessen: Plattformen sind aus demselben Grund nützlich, aus dem sie mächtig sind.

Plattformen sind ein Konzept zur Organisation menschlicher Interaktionen, bei denen sich Netzwerkmacht mit Kontrolle kombinieren lässt. Plattformmacht ist sowohl Grundlage des zunehmenden politischen Einflusses von Plattformen als auch ihrer Geschäftsmodelle. Da Plattformbetreiber meist kapitalistische Unternehmen sind, suchen sie Wege, um den Mehrwert, den sie generieren, wieder abzuschöpfen. Dafür müssen sie zwangsläufig die Zugänge der Interaktionen beschränken und den Nutzen der Plattformen wieder verringern.

Plattformen sind nützlich und gerade deswegen auch gefährlich. Plattform sind nicht grundsätzlich abzulehnen, aber man sollte sehr aufpassen, von welchen Plattformen man sich abhängig macht. Insbesondere, wenn es um sensible gesellschaftliche Zusammenhänge wie etwa die Gesundheitsversorgung geht.

Literatur

Giblin R, Doctorow C (2022). Chokepoint Capitalism: How Big Tech and Big Content Captured Creative Labor Markets and How We’ll Win Them Back. Boston.

Grewal D S (2008). Network Power. The Social Dynamics of Globalization. New Haven.

Olson M (1965). The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups. Cambridge.

Schmitt C (1950). Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Berlin.

Seemann M (2014). Das Neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Freiburg.

Seemann M (2021). Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten. Berlin.

Seemann M (2022). Die Graphnahme der Gesundheit. Ein Planspiel zur möglichen Plattformisierung des deutschen Gesundheitssystems. Baas J (Hrsg.). Gesundheit im Zeitalter der Plattformökonomie. Ziele. Herausforderungen. Handlungsoptionen. Berlin. 50–58.

Autor

Michael Seemann studierte Angewandte Kulturwissenschaften und promovierte 2021 in Medienwissenschaften. Er startete 2010 einen Blog zum Verlust der Kontrolle über die Daten im Internet und veröffentlichte seine Thesen 2014 unter dem Titel „Das Neue Spiel“ auch als Buch. Sein zweites Buch, „Die Macht der Plattformen“, erschien 2021. Zum Thema Plattformregulierung war er 2016 als Sachverständiger im Bundestag. Er hält Vorträge zu den Themen Internetkultur, Plattformen, Künstliche Intelligenz und die Krise der Institutionen in Zeiten des digitalen Kontrollverlusts.

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    Ohne Kontext ist alles nichts

    Dr. Matthias Naab
    Dr. Marcus Trapp

    Wer ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt, muss meist viele Fragen zur Krankengeschichte beantworten. Ärztinnen und Ärzte stellen diese Fragen, um die Zahl der möglichen Diagnosen einzugrenzen. Diese sogenannte Anamnese ist ein fester Bestandteil der ärztlichen Diagnostik und die darin enthaltenen Kontextinformationen helfen, im nächsten Schritt die passende Behandlung zu finden. So lassen Kontextinformationen in den unterschiedlichsten Bereichen unseres Lebens Nutzen entstehen. Dieser Gedanke bildet auch das Leitprinzip der hier vorgestellten Konzeption für eine nationale Gesundheitsplattform.

    Nicht nur im medizinischen Umfeld, auch im Alltagsleben ist es sehr hilfreich, etwas über den Kontext zu wissen, um bestimmte Probleme lösen oder anderen Menschen Ratschläge geben zu können. Wenn uns jemand nach dem Weg zu einem bestimmten Ziel fragt, müssen wir zumindest wissen, wo sich die Person gerade befindet und welche Verkehrsmittel ihr zur Verfügung stehen. Fragt uns jemand nach Beziehungstipps, sollten wir ebenfalls etwas zur aktuellen Partnerkonstellation und Beziehungssituation wissen.

    Der Blick auf die uns umgebende IT-Welt lässt dies noch deutlicher werden. Wenn wir mit Software-Systemen arbeiten, die keinerlei Kontext einbeziehen, erscheinen sie uns oft limitiert. So spucken etwa die Basisversionen von Suchmaschinen, denen kein Kontext zur Verfügung steht, riesige Mengen an Ergebnissen aus. Die Suche nach „Restaurant“ führt dann unter anderem zu Erklärungstexten, die den Begriff Restaurant definieren. Das mag für manche Suchintention sogar das richtige Ergebnis sein, doch die meisten Menschen suchen nach „Restaurant“, wenn sie wissen möchten, welche Restaurants sich in der Nähe befinden.

    Bezieht die Suchmaschine den eigenen Kontext automatisch ein, so wird das Ergebnis plötzlich vielfach bedeutender: Die aktuelle Position führt dann zu Restaurantvorschlägen in der Nähe. Berücksichtigt die Software noch weitere Aspekte wie Uhrzeit oder persönliche Essenspräferenzen, so wird das Ergebnis immer hilfreicher und schränkt die Vorauswahl auf passende Restaurants ein, die gerade geöffnet sind und zu den individuellen Vorlieben passen. Alternativ bestünde immer die Möglichkeit, die gesammelten Kontextinformationen selbst einzugeben, etwa den Ort oder den Zeitpunkt des Besuchs. Solche Nutzerangaben würden dann ebenfalls gute Ergebnisse liefern, gleichzeitig aber auch den Bedienungsaufwand erhöhen.

    Suchmaschinen sind nur ein Beispiel; es gibt zahlreiche weitere Softwareapplikationen, die durch die Einbeziehung von Kontextinformation gleichermaßen bessere Ergebnisse liefern: Seien es Navigationssysteme, die für eine zuverlässige Navigation kontinuierlich den aktuellen Standort benötigen, seien es Fitnesstracker, die Empfehlungen aus zahlreichen beobachteten Körperwerten ableiten, oder seien es Partnervermittlungsportale, die nur vielversprechende Vorschläge machen können, wenn Eigenschaften und Vorlieben geteilt werden.

    Die Vielfalt von Softwareapplikationen, die mithilfe von Kontext arbeiten und auf diese Weise Nutzen bringen, hat dafür gesorgt, dass die überwältigende Mehrheit der Nutzerinnen und Nutzern damit grundsätzlich vertraut ist und entsprechende Kontextfaktoren mit den Softwaresystemen teilt, um in den Genuss individuell zugeschnittener Angebote zu kommen.

    Als intelligent und besonders hilfreich wahrgenommene Features basieren so gut wie immer auf der Verwendung von Kontextinformationen und lassen die Ansprüche der Nutzerschaft immer weiter wachsen. Wer neue, erfolgreiche Dienste erschaffen möchte, setzt daher auf einen höheren Automatisierungsgrad sowie bessere Nutzungserfahrung und führt dazu vorhandene Informationen und Kontextinformationen zusammen.

    Erst Kontext ermöglicht echten Patientennutzen

    Ein zentrales Ziel der nationalen Gesundheitsplattform besteht darin, Patientinnen und Patienten vertrauenswürdige Gesundheitsinformationen und -services anzubieten, die optimal für deren aktuelle gesundheitliche Situation ausgewählt und aufbereitet sind.

    Die Abbildung unten zeigt eine minimalistische Form der nationalen Gesundheitsplattform. Hier werden Informations- und Serviceangebote an Patientinnen und Patienten vermittelt, ohne dass explizit Kontextinformationen von außerhalb einfließen.

    Die nationale Gesundheitsplattform soll einen möglichst hohen Nutzen für Patientinnen und Patienten erzeugen, indem verlässliche Gesundheitsinformationen und -services so passend wie möglich zur aktuellen gesundheitlichen Situation angeboten werden. Um dies leisten zu können, müssten notwendige Kontextinformationen manuell von der jeweilige Patientin oder dem Patienten eingegeben werden. Diese Lösung ist in der heutigen Zeit jedoch kaum noch akzeptabel, denn sie würde nutzerseitig hohe Aufwände erzeugen und daher keine nennenswerte Verbreitung finden. Allerdings ist es unerlässlich, den jeweiligen Kontext von Patientinnen und Patienten als Grundlage der Auswahl und des Angebots einzubeziehen.

    Die Kernidee der hier entworfenen Plattform besteht darin, Kontextinformationen, die schon an unterschiedlichen Stellen in anderen IT-Systemen (z. B. in Praxisverwaltungssystemen, in der elektronischen Patientenakte oder in Health Trackern) verfügbar sind, für die Auswahl von Informationen und digitalen Services auf der nationalen Gesundheitsplattform nutzbar zu machen. Somit können Patientinnen und Patienten selbstbestimmt Kontextinformationen zu ihrer Person aus anderen IT-Quellen für ein besonders hilfreiches und einfaches Nutzungserlebnis einfließen lassen. Die so erzielbare Qualität in den Ergebnissen könnte künftig ein starkes Alleinstellungsmerkmal der Plattform bilden.

    Wie aus Kontextinformation konkreter Patientennutzen entsteht

    Nur wenn es gelingt, Services und Informationen automatisch und mit hoher Passung zum individuellen Kontext bereitzustellen, werden Nutzende sie akzeptieren. Deshalb soll die nationale Gesundheitsplattform Informationen in einen strukturierten Lern- und Interaktionsprozess einbetten und so eine Vielzahl personalisierter Patienteninformationspfade entstehen lassen (vgl. Entdecken statt suchen).

    Als Patienteninformationspfad wird ein konkreter Interaktionsdurchlauf einer Patientin oder eines Patienten verstanden, bei dem immer passend zum Kontext geeignete Services und Informationen angeboten werden und somit zielgerichtet Unterstützung geleistet wird, die als nutzbringend wahrgenommen wird. Ausgehend von der Vielzahl möglicher Informationspfade, stellt sich die Frage, wie diese Art der Unterstützung automatisch erzeugt werden kann. Selbst für Fachleute ist es herausfordernd, aus einer riesigen Menge von Informations- und Serviceangeboten die richtige Auswahl zu treffen.

    Die Lösung liegt in einer neu geschaffenen Modellierungssprache. Damit können Expertinnen und Experten ein Pfadmodell als Vorlage für den im Krankheitsverlauf auftretenden Informationsbedarf modellieren. Die so entstehenden Pfadmodelle berücksichtigen unterschiedliche Aspekte wie den Behandlungsverlauf im medizinischen Versorgungssystem, aber auch unterschiedliche Phasen der Krankheitsbewältigung oder leistungsrechtliche Fragen.

    Pfadmodellentwickler

    Die Entwicklung der Pfadmodelle erfordert noch eine weitere Rolle im digitalen Ökosystem: die der Pfadmodellentwickler. Dabei handelt es sich um Expertinnen und Experten, die den erwartbaren Informationsbedarf zu einer Indikation auf Basis typischer Krankheits-, Behandlungs- und Bewältigungsverläufe beschreiben. Der Community-Ansatz kann an dieser Stelle dazu beitragen, eine schnell wachsende und detaillierte Wissensbasis in der nationalen Gesundheitsplattform entstehen zu lassen.

    Bei der Modellierung spielt die Verarbeitung von Kontextinformationen eine zentrale Rolle: Der modellierte Verlauf wird mit den im Zeitverlauf erwartbaren Informationsbedarfen verknüpft. Zu bestimmten Kontexten (z. B. konservative versus operative Therapie) wird dann festgelegt, welche Gesundheitsinformationen und -services hier angeboten werden sollten. Auf diese Weise findet das Fach- und Erfahrungswissen ganz unterschiedlicher Akteure und wissenschaftlicher Disziplinen seinen Weg in die Informationspfade.

    Dieser Einsatz einer Experten-Community bildet einen Grundpfeiler der Qualitätssicherung und lässt modelliertes Wissen entstehen, das nachprüfbar und erklärbar ist. Ausgehend von Informationen zum situativen Kontext, werden die modellierten Vorlagen dynamisiert und erweitert. Durch diese Kombination aus Mensch und Technologie dürfte im Gegensatz zu rein KI-basierten Lösungen das Vertrauen in eine nationale Gesundheitsplattform gestärkt werden.

    Im Falle einer Umsetzung würden auf der nationalen Gesundheitsplattform millionenfach und automatisch personalisierte Patienteninformationspfade erzeugt und genutzt. Dabei werden durch die Pfadmodelle konkrete und patientenspezifische Kontextinformationen zur jeweils aktuellen Auswahl der angebotenen Gesundheitsinformationen und -services verwendet. Somit bilden die mit Fach- und Erfahrungswissen aufgeladenen Pfadmodelle das fehlende Puzzlestück, um Patientinnen und Patienten ein individuell zugeschnittenes Informationsangebot unterbreiten zu können.


    Was ist Kontext eigentlich genau? Ordnung im Begriffswirrwarr

    Bisher wurde der Begriff „Kontextinformationen“ in diesem Artikel abstrakt verwendet. Wenn über Daten und Informationen gesprochen wird, kommt es jedoch häufig zu Missverständnissen. Einerseits wird meist nicht unterschieden, um welche Daten und Informationen es sich genau handelt, und andererseits wird zu wenig über Einsatzzwecke, entstehende Nutzen und resultierende Schutzbedürfnisse gesprochen. Deshalb soll der Begriff „Kontext“ hier näher erläutert und abgegrenzt werden.

    Wenn in diesem Text von „Kontext“ die Rede ist, so meint dies Informationen über den jeweiligen Kontext einer bestimmten Person, die in IT-Systemen zur Verfügung stehen, um Angebote zu personalisieren. Zu Kontextinformationen zählen beispielsweise

    • grundsätzliche Personeneigenschaften: z. B. Alter, Geschlecht, Gewicht
    • Präferenzen der Patientinnen und Patienten: z. B. Präferenzen zu Informationsanbietern, Präferenzen zu Eigenschaften von Informationen (Sprache, Verständlichkeit etc.)
    • Informationen zum Gesundheitsstatus: z. B. Indikationen, Einnahme von Medikamenten, Nutzung von Gesundheitsdienstleistungen
    • Aktuelle Informationen: z. B. zu „Ereignissen“ wie der Verordnung eines neuen Medikaments, der Einweisung in ein Krankenhaus oder zu situativen Stimmungen und dem aktuellen Befinden
    • Informationen über Nutzung in der nationalen Gesundheitsplattform: z. B. schon gelesene Artikel, Feedback zu Artikeln

    Andere Informationen mit hoher Relevanz, die aber nicht zu den Kontextinformationen zählen, sind beispielsweise die verlässlichen Gesundheitsinformationen (z. B. erklärende Artikel zu einer bestimmten Krankheit). Diese werden von den Anbietern bereitgestellt und weisen keinerlei Personenbezug auf.

    Kontextinformationen haben in der hier skizzierten nationalen Gesundheitsplattform immer nur den direkten Zweck, den Nutzen für Patientinnen und Patienten zu erhöhen. Darauf baut auch der Schutz dieser Daten auf.


    Kontextinformationen in vertrauenswürdigen Händen

    Grundsätzlich könnten unterschiedliche Akteure im Markt ein digitales Ökosystem etablieren und mit dem Einverständnis von Patientinnen und Patienten ihre spezifischen Kontextinformationen in einer Plattform zusammenführen und weiterverarbeiten. Jeder Plattformbetreiber wird jedoch seine eigenen Wertvorstellungen bei der Gestaltung seiner Plattform einbringen. Bei der Konzeption der nationalen Gesundheitsplattform wurde daher besonders viel Wert darauf gelegt, eine vertrauenswürdige Trägerstruktur zu etablieren, die für einen verantwortungsvollen Umgang mit den sensiblen Kontextinformationen steht (vgl. Gesundheitsökosysteme erfolgreich etablieren).

    Kontextinformationen sollen immer nur mit dem Ziel verarbeitet werden, bessere Nutzungserfahrungen und bessere Informations- und Serviceangebote zu liefern. Genau darauf liegt der Fokus und deshalb werden diese Informationen nicht für ewige Zeit oder für andere Verwendungszwecke vorgehalten. Sofern die Datennutzung zu anderen Zwecken nicht explizit freigegeben wurde, werden die Daten nur so lange gespeichert, wie es für die Erfüllung des Zwecks notwendig ist.

    Die Patientin oder der Patient sollte über ein differenziertes Einwilligungssystem jederzeit die volle Kontrolle über die Verwendung personenbezogener Kontextinformationen behalten. Hierzu sollte es zu jeder Zeit möglich sein, die unterschiedlichen Anbieter und Quellen von Kontextinformationen zu steuern.

    Die gesamte Konstruktion zielt darauf ab, wertvollen Patientennutzen zu stiften und diesen auch klar in Richtung aller Akteure im Gesundheitswesen zu kommunizieren. Maßgeblich ist, dass durch den verantwortungsbewussten und transparenten Einsatz von Gesundheitsdaten Wohlfahrtseffekte und individuelle Nutzen entstehen können. Natürlich ist der Schutz personenbezogener Daten dabei stets zu gewährleisten.

    Kontext macht den Unterschied

    Kontext ist ein entscheidender Faktor, um Softwarelösungen nützlich und angenehm zu gestalten. Das gilt grundsätzlich für alle Bereiche und natürlich auch für das Gesundheitswesen. Während die Menschen diese Vorteile in vielen anderen Bereichen schon länger genießen, stoßen sie im Gesundheitswesen immer wieder auf fraktionierte Systeme, die den Kontext nicht oder nur unzureichend berücksichtigen.

    Mit den Patienteninformationspfaden könnte ein unmittelbar einleuchtender Nutzen für Patientinnen und Patienten geschaffen werden, denn der auf Kontextinformationen basierende, personalisierte Ansatz ermöglicht individuelle Nutzungserfahrungen und spart viel Zeit durch eine Angebotsauswahl mit hoher Passgenauigkeit.

    Autoren

    Dr. Matthias Naab und Dr. Marcus Trapp sind Co-Founder von Full Flamingo. Sie helfen Unternehmen pragmatisch, die wichtigen Entscheidungen in der digitalen Transformation abzusichern. Sie waren bis 2022 am Fraunhofer IESE als Führungskräfte tätig und haben das Thema „Digitale Ökosysteme und Plattformökonomie“ mit aufgebaut und verantwortet.

     

     

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      Informationsvermittlung als Prozess begreifen

      Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler
      Dr. Inga Münch

      Viele Anbieter von Gesundheitsinformationen verfolgen gute Absichten. Sie möchten das Gesundheitsverhalten ihrer Adressaten positiv beeinflussen, Hilfestellung bei der Krankheitsbewältigung leisten oder Behandlungsentscheidungen unterstützen. Im digitalen Zeitalter verfehlen viele dieser Informationen jedoch das Nadelöhr der Aufmerksamkeit und verhallen wirkungslos in der ständig wachsenden Informationsflut. Kontextsensitive Informationspfade könnten Abhilfe schaffen und Streuverluste verringern.

      Die Produktion und Bereitstellung von Gesundheitsinformationen folgen nicht selten der Vorstellung, dass Informationen von einem Sender über einen Kanal an einen Empfänger übermittelt werden, der diese dann versteht und in neues Wissen überführt. Ist eine Nachricht einmal übermittelt, kann sie ihre Wirkung entfalten, Entscheidungen prägen oder das Verhalten beeinflussen. Diese Vorstellung des sogenannten Sender-Empfänger-Modells aus den 1940er Jahren wird der Wirklichkeit jedoch kaum gerecht, denn die Aneignung von Informationen ist kein punktuelles Ereignis, sondern ein hochkomplexer Lernprozess mit vielen Einflussfaktoren.

      Eine wissenschaftliche Disziplin, die sich dieser Komplexität des Wissens- und Kompetenzerwerbs seit jeher widmet, sind die Erziehungswissenschaften: Die pädagogische Didaktik hat das einfache Sender-Empfänger-Modell schon immer in Frage gestellt und wendet sich gegen vermeintliche „Eintrichterungstheorien“. Sie begreift Lernen stattdessen als einen individuellen Prozess der Selbstorganisation von Wissen. Der Erwerb von Wissen und Kompetenzen wird dabei niemals als Momentaufnahme, sondern als fortlaufender und planbarer Prozess verstanden, der sich auf der kognitiven wie emotionalen Ebene gleichermaßen ereignet. Dieser Vermittlungsprozess ließe sich bildhaft als Lern- oder Informationspfad beschreiben, der auch Hinweise darauf liefert, welche Informationen zu welchem Zeitpunkt benötigt werden.

      „Wissen kann nie als solches von einer Person zur anderen übermittelt werden. Die einzige Art und Weise, in der ein Organismus Wissen erwerben kann, besteht darin, es selbst aufzubauen oder für sich selbst zu konstruieren.“

      Ernst von Glasersfeld (1987)

      Selektive Informationsverarbeitung

      Die menschlichen Aufmerksamkeitsressourcen sind begrenzt und so werden längst nicht alle Informationen, die auf uns einströmen, bewusst wahrgenommen und verarbeitet. Damit Menschen auf Informationen aufmerksam werden, müssen diese situativ von Bedeutung sein und in den jeweiligen Kontext passen. Das gilt auch und insbesondere für Gesundheitsinformationen, denn Patientinnen und Patienten durchlaufen mit der Zeit unterschiedliche Krankheitsstadien, die mit einem sich ständig wandelnden Informationsbedarf einhergehen.

      Solche Stadien lassen sich etwa im Hinblick auf den individuellen Behandlungspfad beschreiben. Dieser beginnt häufig mit der Akutversorgung und einer ersten Diagnosestellung, die bei Patientinnen und Patienten zunächst den Bedarf nach grundlegenden Informationen zur jeweiligen Erkrankung wecken dürfte. In der nächsten Phase geht es um Therapieentscheidungen und möglicherweise auch die Auswahl einer spezialisierten Einrichtung für die weitere Behandlung. Während der Rehabilitation oder Nachsorge interessieren sich die Betroffenen weniger für Informationen zu Diagnose- und Behandlungsverfahren als vielmehr für Informationen und Unterstützung beim Umgang mit der jeweiligen Erkrankung.

      Die Erkenntnisse zum Einfluss unterschiedlicher Stadien auf die selektive Aufmerksamkeit kann auch mit dem klassischen Modell der Krankheitsbewältigung in Beziehung gesetzt werden. Demnach folgt der Diagnose einer schweren Erkrankung zunächst eine von Angst und Unruhe geprägte Phase, in der die Diagnose nicht selten verleugnet wird. Häufig folgt dem ersten Schock eine Phase der Wut und anschließend eine der Verzweiflung und persönlichen Verletzlichkeit. Nach einem inneren Aushandlungsprozess wird schließlich auf der letzten Stufe die Erkrankung akzeptiert und angenommen. Die beschriebenen Phasen sowie die damit verbundenen Affekte können die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen maßgeblich beeinflussen.

      Gesundheitsinformation werden oft auch mit dem Ziel erstellt, das individuelle Gesundheitsverhalten positiv zu beeinflussen oder ein Risikoverhalten zu minimieren. Hinweise auf die Frage, welche Informationen hier zu welchem Zeitpunkt von Bedeutung sind, liefern die gesundheitswissenschaftlichen Stadien- und Stufenmodelle des Gesundheitsverhaltens. Auch diese Modelle postulieren, dass Menschen auf dem Weg zu einer Verhaltensänderung immer eine Entwicklung mit verschiedenen Stufen durchlaufen.

      Zwischen Anspruch und Realität

      Die Stadien- und Stufenmodelle aus den Gesundheitswissenschaften machen deutlich, wie wichtig eine strukturierte und prozesshaft angelegte Informationsvermittlung ist, um informierte Entscheidungen zu ermöglichen und die individuelle Gesundheitskompetenz zu fördern. Sie legen nahe, dass immer nur solche Informationen angeboten werden sollten, die in der jeweiligen Krankheits-, Bewältigungs- und Versorgungsphase auch tatsächlich relevant sind.

      Die Realität ist jedoch eine andere: Meist werden Patientinnen und Patienten aus ganz unterschiedlichen Quellen mit Informationen unterschiedlicher Qualität überflutet. Sie führen Aufklärungsgespräche, erhalten Informationen über die Trefferlisten der Suchmaschinen, geraten in die Informationsblasen und Echokammern der sozialen Netzwerke, lesen Informationsbroschüren von Krankenversicherungen und erhalten engagierte Ratschläge aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis. All das passiert in der Regel parallel und unkoordiniert.

      „Wer im Internet nach Informationen sucht, dem geht es so wie jemandem, der um ein Glas Wasser bittet und aus einem Feuerwehrschlauch bedient wird und dabei nicht weiß, wo das Wasser herkommt.“

      Michael Scholz (WHO) 2003

      Die bislang praktizierte, unkoordinierte Bereitstellung und Verbreitung von Gesundheitsinformationen ist angesichts der Informationsflut im digitalen Zeitalter keine erfolgversprechende Strategie, um den Menschen gesunde Entscheidungen zu ermöglichen. Im Jahr 2019 forderte auch der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz die „Schaffung eines systematischen Informationsmanagements, das sich über den gesamten Krankheitsverlauf erstreckt“. Diesem Gedanken folgend, sollte die Informationsvermittlung in einen strukturierten Lernpfad eingebettet werden, der jeweils dem situativen Informations- und Unterstützungsbedarf sowie dem individuellen Kontext gerecht wird (vgl. Entdecken statt suchen: Prototyp für eine nationale Gesundheitsplattform).

      Literatur

      Ajzen I, Fishbein M (1980). Understanding Attitudes and Predicting Social Behavior Englewood Cliffs, NJ.

      Bandura A (1977). Self-efficacy: Toward a Unifying Theory of Behavioral Change. Psychological Review 84 (2). 191–215.

      Becker M H (1974). The Health Belief Model and Personal Health Behavior. Thorofare, NJ.

      Betsch T, Funke J, Plasser H (2011). Denken – Urteilen, Entscheiden, Problemlösen. Berlin.

      Broadbent D E (1958). Perception and Communication. London, New York.

      Kreuter M W, Strecher V J, Glassman B (1999). One size does not fit all. The case for tailoring print materials. Annals of Behavioral Medicine 21. 276–283.

      Noar S M, Benad C N, Harris M S (2007). Does tailoring matter? Meta-analytic review of tailored print health behavior change interventions. Psychol Bull. 133 (4). 673–693.

      Rogers R W (1975). A Protection Motivation Theory of Fear Appeals and Attitude Change. Journal of Psychology 91 (1). 93–114.

      Rosenstock I M (1966). Why people use health services. Milbank Memorial Fund Quarterly 44. 94–127.

      Schaeffer D, Moers M (2009). Schwerpunkt: Bewältigung chronischer Krankheit. Überlebensstrategien – ein Phasenmodell zum Charakter des Bewältigungshandelns chronisch Erkrankter. Pflege & Gesellschaft 13 (1).

      Schaeffer D, Hurrelmann K, Bauer U, Kolpatzik K (Hrsg.) (2018). Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Die Gesundheitskompetenz in Deutschland stärken. Berlin.

      Shannon C E, Weaver W (1949). The Mathematical Theory of Communication. Urbana, IL.

      Autor/Autorin

      Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler ist als Co-Director mitverantwortlich für das Gesundheitsprogramm der Bertelsmann Stiftung. Zuvor arbeitete er als geschäftsführender Gesellschafter der Patientenprojekte GmbH, einer auf den Bereich der Patientenkommunikation spezialisierten Organisations- und Unternehmensberatung. Von 2011 bis 2015 war Schmidt-Kaehler Bundesgeschäftsführer der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). Er ist Mitglied im Expertenrat des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz.

      Dr. Inga Münch verantwortet das Projekt „Trusted Health Ecosystems“ der Bertelsmann Stiftung. Zuletzt hat sie in verschiedenen Projekten an den Schnittstellen Patientenzentrierung und digitale Gesundheit gearbeitet. Sie ist Gesundheitswissenschaftlerin und hat zum Konzept gesundheitskompetenter Organisationen promoviert. Zuvor hat sie in der Forschung an wissenschaftlichen Projekten im Bereich Gesundheitsbildung, Patientenorientierung und Gesundheitssystemforschung gearbeitet.

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        Erste Gedanken zur technischen Struktur der nationalen Gesundheitsplattform

        Dr. Matthias Koch

        Die Software-Architektur einer digitalen Plattform veranschaulicht deren Struktur, liefert aber auch Informationen zu den erwartbaren Kosten oder zur technischen Realisierbarkeit bestimmter Anforderungen. Bei der hier skizzierten nationalen Gesundheitsplattform wird sie dem Grundmuster anderer Vermittlungsplattformen folgen, kann jedoch detailliert erst ausgearbeitet werden, wenn im Fall einer Umsetzung sämtliche Anforderungen definiert und offene Fragen abschließend beantwortet werden. Während der Konzeptentwicklung wurden ganz bewusst Fragen unbeantwortet gelassen, um Gestaltungsspielräume zu schaffen und keine unnötigen Vorfestlegungen zu treffen. Die bereits getroffenen konzeptionellen Festlegungen sowie die Bestimmung von Rollen und Aufgaben im digitalen Ökosystem der Plattform ermöglichen allerdings einen ersten Überblick über die notwendigen Komponenten und deren Zusammenspiel.

        Auf Basis der konzeptionellen Vorüberlegungen (vgl. Unser Konzept in der Gesamtschau) lassen sich Systemgrenzen aufzeigen, die verdeutlichen, was Gegenstand der nationalen Gesundheitsplattform ist und welche unmittelbar benachbarten Systeme über Schnittstellen verbunden sind. Die hier beschriebenen Überlegungen bilden jedoch keine umsetzungsreife Software-Architektur ab, die bereits alle relevanten Architekturtreiber und technologischen Aspekte berücksichtigt. Deren Erhebung und Verfeinerung wird Gegenstand weiterer konzeptioneller Arbeit sein.

        Teilnehmende Akteure des Ökosystems

        Im Zentrum der Betrachtung steht die nationale Gesundheitsplattform als technisches Rückgrat der Vermittlung kontextspezifischer digitaler Gesundheitsinformationen und Services. Die Plattform hat die Aufgabe, wesentliche Funktionen zur Verwaltung von Nutzerinnen und Nutzern sowie von Inhalten zur Verfügung zu stellen. Außerdem bildet sie das technische Bindeglied zwischen den verschiedenen Akteuren im Ökosystem. Abgesehen vom Plattformbetreiber zählen hierzu die

        Anbieter von Gesundheitsinformationen – z. B. von Informationen zu Erkrankungen, zur Prävention, zur Versorgungsstruktur etc. in unterschiedlichen Formaten.

        Anbieter von gesundheitsrelevanten Services – z. B. Online-Terminvereinbarung, Krankenhaussuche, Schmerztagebuch etc.

        Anbieter von Kontextinformationen – personenbezogene Informationen, die Hinweise auf den situativen Informationsbedarf der Patientinnen und Patienten liefern

        Entwickler von Pfadmodellen – indikationsspezifische Vorlagen für den erwartbaren Verlauf des Informationsbedarfs, entlang derer Gesundheitsinformationen spezifisch für die jeweiligen Patientinnen und Patienten ausgespielt werden

        Patientinnen und Patienten

        Die Plattform und ihre Schnittstellen

        Die zentrale Aufgabe der nationalen Gesundheitsplattform besteht darin, Gesundheitsinformationen und gesundheitsrelevante Services zur richtigen Zeit an die richtigen Personen weiterzugeben. Diese Weitergabe wird in aller Regel durch Ereignisse gesteuert, beispielsweise einen Arztbesuch oder das Erreichen einer zeitlichen Frist wie »sechs Wochen nach Krankschreibung«. Solche Ereignisse wiederum werden von eingehenden Kontextinformationen abgeleitet, woraufhin die nationale Gesundheitsplattform entlang eines oder mehrerer aktuell relevanter Pfadmodelle die passenden Informationen und Services an die Patientinnen und Patienten ausspielt (vgl. Unser Konzept in der Gesamtschau). Für diese Kernfunktionalität der Vermittlung von Gesundheitsinformationen und Services sind verschiedene Schnittstellen notwendig, die nachfolgend vorgestellt werden:

        • Schnittstelle zur Aufnahme von Gesundheitsinformationen: Diese Schnittstelle ermöglicht, Gesundheitsinformationen auf der Plattform zu hinterlegen, damit diese aufgrund bestimmter Merkmale dem situativen Informationsbedarf der Patientinnen und Patienten zugeordnet und in einem personalisierten Feed (vgl. Entdecken statt suchen) bereitgestellt werden können. Darüber hinaus können diese Information über eine semantische Suche abgerufen werden.
        • Schnittstelle zur Aufnahme von Services: Die Aufnahme von Services erfolgt analog zur Aufnahme von Gesundheitsinformationen. Services werden den Patientinnen und Patienten ebenfalls situativ bereitgestellt.
        • Schnittstelle zur Aufnahme individueller Kontextinformationen: Die Übermittlung individueller Kontextinformationen über Patientinnen und Patienten erfordert Schnittstellen, die eine automatisierte Kommunikation zwischen Systemen erlauben. Der Austausch von Daten über diese Schnittstellen erfolgt ausschließlich auf Basis der differenzierten Einwilligung der Patientinnen und Patienten für den jeweiligen Anbieter der Kontextinformationen, etwa die elektronische Patientenakte (ePA) oder diverse Anbieter von Fitness- und Gesundheitsdaten. An den Schnittstellen zur Übergabe der Kontextinformationen kann die Plattform vor deren Entgegennahme prüfen, ob die Einwilligung der Nutzerin oder des Nutzers vorliegt. Für verschiedene Kontextinformationen unterschiedlicher Anbieter können ggf. jeweils angepasste Schnittstellen notwendig sein, wobei eine Harmonisierung der eingehenden Daten im Anschluss durch die nationale Gesundheitsplattform erfolgt.
        • Schnittstelle zur Verwaltung von Pfadmodellen: Die Vorlagen werden über eine grafische Benutzeroberfläche modelliert und auf der Plattform hinterlegt. Über dieselbe Schnittstelle ist es möglich, Pfadmodelle zu verwalten, zu überarbeiten und zu verbessern. Ebenso lässt sich eine kollaborative Modellierung zwischen mehreren Erstellern realisieren.
        • Schnittstelle für Patientinnen und Patienten: Patientinnen und Patienten greifen über eine grafische Benutzeroberfläche – etwa als Webseite oder App für mobile Endgeräte – auf die Funktionalitäten der nationalen Gesundheitsplattform zu, insbesondere um Gesundheitsinformationen zu erhalten sowie den Zugang zu gesundheitsrelevanten Services. Neben dieser traditionellen Schnittstelle können weitere Zugriffsmöglichkeiten eingesetzt werden, vor allem sprachbasierte Benutzungsschnittstellen. Die Patientinnen und Patienten werden authentifiziert über die in der Telematikinfrastruktur 2.0 geplante digitale Identität im Gesundheitswesen, die gewährleistet, dass sämtliche Daten zuverlässig den Patientinnen und Patienten zugeordnet und nur von diesen abgerufen werden können.

        Schnittstelle zur Aufnahme von Gesundheitsinformationen

        Gesundheitsinformationen werden von zertifizierten Anbietern mittels eines dialoggestützten Vorgangs bereitgestellt. Dieser unterstützt die jeweiligen Anbieter dabei, ihre Informationen der Plattform so zu übermitteln, dass sie mit Pfadmodellen verknüpft und ausgespielt werden können oder über die Suche für Patientinnen und Patienten auffindbar sind. Bei diesem Vorgang wird der eigentliche Inhalt – etwa ein Informationstext oder ein Video – nicht auf die Plattform übertragen, sondern verbleibt beim jeweiligen Anbieter. Stattdessen wird ein Link hinterlegt und mit Meta-Informationen, etwa zum Erstelldatum oder zu den verwendeten Quellen, angereichert.

        Die Gesundheitsinformationen werden über die zuvor genannte Schnittstelle an die nationale Gesundheitsplattform übermittelt. Diese Schnittstelle kann in zwei Ausprägungen realisiert werden. Zum einen kann die Plattform selbst eine grafische Benutzeroberfläche anbieten. Die von Anbietern der Gesundheitsinformationen nutzbare Webseite oder Anwendung unterstützt diese dabei, ihre Informationen zu hinterlegen und alle notwendigen Angaben zu erfassen.

        Zum anderen kann diese Schnittstelle so konzipiert werden, dass Daten von anderen Systemen entgegengenommen werden, ohne dass Nutzerinnen und Nutzer aktiv werden müssen. Hierfür notwendig sind ergänzende Schnittstellen auf Seiten der Anbieter der Gesundheitsinformationen, konkret bei den jeweiligen Content-Management-Systemen, über die die Informationen originär erstellt werden. Diese Systeme übertragen freigegebene Informationen an die Plattform. Das hat den Vorteil, dass die Anbieter kein zusätzliches System bedienen müssen und in ihrer gewohnten Arbeitsumgebung bleiben können.

        Schnittstelle zur Aufnahme von gesundheitsrelevanten Services

        Gesundheitsrelevante Services werden ähnlich wie Gesundheitsinformationen behandelt. Das heißt, zertifizierte Anbieter werden dabei unterstützt, ihre Dienste mit der nationalen Gesundheitsplattform zu verknüpfen. Analog zu den Gesundheitsinformationen erfolgt keine vollständige Übertragung der Services auf die Plattform, sondern es werden Verlinkungen vorgenommen: Die Plattform erhält einen Verweis auf einen Service mit beschreibenden Metadaten, um diesen entlang eines Pfadmodells an Patientinnen und Patienten auszuspielen.

        Schnittstelle zur Aufnahme von individuellen Kontextinformationen

        Kontextinformationen, die Auskunft über den situativen Informationsbedarf von Patientinnen und Patienten liefern, fallen bei unterschiedlichen Akteuren im Gesundheitswesen an. Entscheidend für den Erfolg der nationalen Gesundheitsplattform ist, sie in einem einheitlichen Format zu erfassen, das sich an bestehenden Standards orientiert. Auf einen möglichen Standard gehe ich im weiteren Verlauf dieses Beitrags noch ein. Die Grundlage für die Vereinheitlichung bildet die von der Plattform spezifizierte Schnittstelle, über die Systeme von Dritten entsprechende Daten übermitteln. Aktuell wichtigster Datenlieferant ist die Gematik bzw. die staatliche Digitalagentur, die über die elektronische Patientenakte alle Daten bündelt, die Arztpraxen, Apotheken und Kliniken über ihre jeweiligen Verwaltungssysteme weitergeben.

        Die Schnittstelle soll erlauben, dass neben der elektronischen Patientenakte weitere Quellen von Kontextinformationen angebunden werden können. Neben Krankenkassen kommen hier auch Plattformen für Gesundheitsdaten wie Google Health oder Fitbit in Frage. Diese Daten würden jeweils mit dem Einverständnis der Patientinnen und Patienten bei den jeweiligen Akteuren an die nationale Gesundheitsplattform übermittelt. Da die exakten Formate der Daten bei den verschiedenen Anbietern noch nicht bekannt sind, ist es wahrscheinlich, dass unterschiedliche Arten von Schnittstellen für verschiedene Gruppen von Anbietern angeboten werden. Dies hat zur Folge, dass die Harmonisierung der Daten möglicherweise im Anschluss auf der nationalen Gesundheitsplattform erfolgt.

        Die hier skizzierte Schnittstelle wird von verschiedenen Systemen angesprochen. Sie wird nicht von Patientinnen und Patienten selbst verwendet und bietet keine grafische Benutzeroberfläche, da individuelle Kontextinformationen automatisiert auf Seiten der Anbieter der Informationen erarbeitet und übertragen werden. Ohne Automatisierung erscheint der notwendige Grad an Aktualität der Daten und deren Menge nicht realisierbar. Gleichwohl muss auch diese Schnittstelle über Authentifizierungsmechanismen verfügen, sodass nur autorisierte Systeme ihre Daten an die nationale Gesundheitsplattform übertragen können.

        Schnittstelle zur Verwaltung von Pfadmodellen

        Die Erstellung von Modellen für Patienteninformationspfade erfordert Expertise hinsichtlich des Verlaufs des patientenseitigen Informationsbedarfs und die Kenntnis der typischen Stationen einer Erkrankung. Daher werden die Vorlagen ausschließlich von zertifizierten Akteuren erstellt (vgl. Unser Konzept in der Gesamtschau) . Gleichzeitig ist zu erwarten, dass Pfadmodelle komplex ausfallen, sodass eine Visualisierung sinnvoll ist. Die grafische Benutzungsschnittstelle zur Modellierung von Pfadmodellen wird auf der nationalen Gesundheitsplattform entsprechend zertifizierten Akteuren bzw. deren Einrichtungen zugänglich sein.

        Schnittstelle für Patientinnen und Patienten

        Abschließend wird die Perspektive der Patientinnen und Patienten betrachtet, für die anhand der individuellen Kontextinformationen die passenden Gesundheitsinformationen und Services ausgespielt werden. Sie nutzen die Benutzeroberfläche der Plattform als Zugang zum digitalen Ökosystem, um entlang von Pfadmodellen jeweils passende Informationen und Services zu erhalten oder – dem eigenen Bedarf entsprechend – nach qualitätsgesicherten Informationen und Services zu suchen. Darüber hinaus erhalten Patientinnen und Patienten zur Wahrung der Datensouveränität die Möglichkeit, die Verwendung ihrer Daten zu steuern. Dies kann über ein Privacy-Dashboard erfolgen, wie es beispielsweise im Forschungsprojekt »D’accord« entwickelt und erprobt wird (https://daccord-projekt.de).

        Die Authentifizierung der Patientinnen und Patienten erfolgt über die digitale Identität, die in der Telematikinfrastruktur 2.0 vorgesehen ist. Diese Authentifizierung erleichtert die Verknüpfung der personenbezogenen Daten der elektronischen Patientenakte, die gerade zu Beginn als primäre Quelle für Kontextinformationen dienen könnte. Neben diesem Zugang können weitere Mechanismen geschaffen werden, um Patientinnen und Patienten in das digitale Ökosystem einzubinden. Dazu gehört etwa ein SMS-Versand über entsprechende Dienstleister, die das direkte Versenden von Links auf die Benutzeroberfläche der nationalen Gesundheitsplattform ermöglichen.

        Weiteres Vorgehen zur Konzeption

        Die abschließende Auswahl der geeigneten Rahmenwerke und Technologien sollte auf Basis einer Anforderungsanalyse und einer detaillierten Architekturkonzeption erfolgen, die die bisher erfassten, groben Anforderungen ergänzt und verfeinert. Hierbei müssen nicht funktionale Anforderungen besonders berücksichtigt werden. Das Thema der IT-Sicherheit wurde im vorherigen Abschnitt bereits angesprochen. Darüber hinaus sind Performance und Skalierbarkeit äußerst relevant, da mit hohen Nutzerzahlen zu rechnen ist – die Plattform soll allen Patientinnen und Patienten in Deutschland zur Verfügung stehen. Die große Zahl der Nutzerinnen und Nutzer sorgt wiederum für einen sehr großen Zustrom an Daten, die von der Plattform zu verarbeiten sind. Die auszuwählenden Technologien zur Realisierung und die darunterliegende Infrastruktur müssen es erlauben, bei entsprechender Last zu skalieren.

        Als weitere essenzielle nicht funktionale Anforderung ist die User Experience (UX) zu berücksichtigen. Da die nationale Gesundheitsplattform allen Patientinnen und Patienten offensteht und für jede und jeden leicht nutzbar sein soll, muss auf die besonderen Bedarfe und Präferenzen unterschiedlicher, teils besonders vulnerabler Nutzergruppen Rücksicht genommen werden. Hierzu zählen beispielsweise alte Menschen oder Patientinnen und Patienten mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Auf diese Gruppen ist bei der Gestaltung ein besonderes Augenmerk zu legen.

        Die Analyse der Anforderungen bestimmt außerdem die weiteren Funktionalitäten der Plattform, unter anderem zur Verwaltung von Nutzerinnen und Nutzern und deren Berechtigungen, zur Verwaltung der Pfadmodelle und zur Instanziierung der Pfadmodelle für Patientinnen und Patienten. Diese bezeichnet die Zuordnung konkreter Gesundheitsinformationen und Services sowie deren Ausspielen über die Plattform anhand der individuellen Kontextinformationen.

        Rahmenbedingungen für Deployment und Hosting

        Der Kern der nationalen Gesundheitsplattform ist die Software selbst, die durch Verteilung auf einen oder mehrere Server funktionsfähig gemacht werden muss. Dieser Vorgang wird »Deployment« genannt. Zusätzlich ist ein Betrieb der Ausführungsumgebung für die Software notwendig, was man als »Hosting« bezeichnet. Daneben verfügt die Plattform über eine Vielzahl von Daten – von Nutzerdaten und Kennungen über Links auf Gesundheitsinformationen und Services bis hin zu Kontextinformationen –, die in Teilen auf der Plattform selbst vorliegen müssen, um sie adäquat auswerten zu können. All diese Daten müssen ebenfalls auf einem oder mehreren Servern abgelegt, das heißt, »gehostet« werden.

        Das Hosting der Plattform und aller gespeicherten Daten muss selbstverständlich nach dem Stand der Technik erfolgen, wobei die Handhabung von Daten grundsätzlich den Maßgaben der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) – und im Falle gesundheitsbezogener Daten den Maßgaben der dort definierten besonderen Schutzmaßnahmen – gerecht werden muss. Im Zuge weiterer Überlegungen zur IT-Architektur der Plattform müssen Entscheidungen zum Deployment getroffen werden. Es muss also die Frage beantwortet werden, welche Teile des Gesamtsystems wie und wohin verteilt werden und welche organisatorischen Einheiten deren Hosting jeweils verantworten. So kann beispielsweise das Hosting der Software vom Hosting der Daten getrennt werden – mit der Etablierung von Sicherheitsmaßnahmen auf beiden Seiten. Eine Kontrolle der Datenflüsse sowohl auf Seiten der Software als auch auf Seiten der Datenbanken sowie eine physische Trennung der Server erschweren eine Kompromittierung des Gesamtsystems. Mit einer solchen Maßnahme lässt sich ein höheres Maß an Sicherheit und Verlässlichkeit im Umgang mit den Daten erreichen.

        Weiterhin notwendig sind spezifische Analysen möglicher Angriffsszenarien, um die nationale Gesundheitsplattform zu schützen. Diese müssen bei der Ausarbeitung einer Software-Architektur vorgenommen werden. Grundsätzlich sollte ein Hosting einschließlich der Speicherung von Backups in Europa angestrebt und von einer im Gesundheitswesen anerkannt vertrauenswürdigen Instanz durchgeführt werden.

        Ereignisgesteuerte Architektur

        Primär werden Gesundheitsinformationen und Services anhand des Push-Prinzips ausgespielt – das heißt, entlang des Durchlaufs von Pfadmodellen erhalten Patientinnen und Patienten die für sie passenden Informationen, ohne selbst aktiv werden zu müssen. Unabhängig davon können Patientinnen und Patienten auch eine traditionelle Suchfunktion nutzen. Bei der Zuordnung von Suchtreffern zu Anfragen kann die Plattform sämtliche vorliegenden Kontextinformationen nutzen, um passende Ergebnisse anzuzeigen. Diese Informationen können zur Erstellung eines individuellen Rankings der Suchergebnisse genutzt werden, analog zu bekannten Suchmaschinen. Im Unterschied zu diesen kann die nationale Gesundheitsplattform bei Bedarf transparent machen, welche Kontextinformationen in welcher Gewichtung zu einem Ranking von Suchergebnissen geführt haben – damit lässt sich das Vertrauen sowohl auf Seiten der Patientinnen und Patienten als auch der Anbieter von Gesundheitsinformationen und Services gewinnen.

        Die technische Abbildung eines Systems wie der hier skizzierten nationalen Gesundheitsplattform kann über eine sogenannte »ereignisgesteuerte Architektur« erfolgen. Eine solche Architektur stellt die Kommunikation verschiedener Komponenten im Gesamtsystem durch Eintreten von Ereignissen in den Vordergrund. Jedes Ereignis wird durch einen Produzenten ausgelöst und anschließend von einem »Event Handler« verarbeitet. Dieses technische Teilsystem bestimmt anhand des Produzenten, des Zeitpunkts und Typs sowie des Inhalts des Ereignisses die nachfolgenden Aktionen – bestimmt also beispielsweise geeignete Gesundheitsinformationen, die einer Patientin oder einem Patienten angezeigt werden.

        Ereignisgesteuerte Architekturen sind ein im Software-Engineering etabliertes Konzept, für das es bereits technische Rahmenwerke gibt, die eine Umsetzung erleichtern. Ein solches bildet der Nachrichten-Broker »Apache Kafka« (https://kafka.apache.org), um eine Realisierungsmöglichkeit exemplarisch zu nennen. Apache Kafka ist eine vielseitig einsetzbare Technologie, die keine domänenspezifischen Aspekte berücksichtigt. Demgegenüber existieren auch Rahmenwerke, die spezifische Standards und Funktionalitäten zur Handhabung gesundheitsbezogener Daten berücksichtigen oder definieren. Ein Open-Source-Rahmenwerk zum Aufbau eines Ökosystems im Gesundheitssektor wird von der Standford University bereitgestellt: »Spezi« (https://github.com/StanfordSpezi). Dieses Rahmenwerk definiert eine Architektur, die den Austausch gesundheitsbezogener Daten mit anderen Systemen dadurch erleichtert, dass der von HL7® definierte FHIR®-Standard für den Austausch gesundheitsbezogener Daten implementiert wird (https://www.hl7.org/fhir/). Es ist denkbar – nach tiefgreifender Analyse der Anforderungen und des Rahmenwerks –, ausgewählte Teile der Plattform auf Spezi aufzubauen.

        Machbar und offen für neue Ideen

        Die hier dargelegten Überlegungen zur technischen Realisierung einer nationalen Gesundheitsplattform skizzieren die grundsätzliche Funktionsweise und belegen die technische Realisierbarkeit des Konzepts. Gleichzeitig zeigen wir damit auf, dass das »Brokering« – also die Vermittlung von Gesundheitsinformationen und Services anhand von individuellen Kontextinformationen der Patientinnen und Patienten – umsetzbar ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Plattform auf Standards und Open-Source-Rahmenwerke wie Standfords »Spezi« aufbauen kann, denn so lassen sich Aufwände und Kosten mindern und die Abhängigkeit von proprietären Lösungen gleichzeitig verringern.

        Zusätzlich gilt gemäß dem Konzept, dass sich die nationale Gesundheitsplattform im Kern auf die Vermittlung von passenden Informationen und digitalen Services beschränkt. Das bedeutet, dass die redaktionelle Erstellung von Gesundheitsinformationen, die Entwicklung von Services sowie die Gewinnung individueller Kontextinformationen nicht von der Plattform selbst geleistet wird. Diese für digitale Ökosysteme typische Konstellation ermöglicht, die Verantwortung zu verteilen und damit die Ressourcen auf die Qualitätssicherung und das automatisierte Ausspielen relevanter Informationen und Angebote für Patientinnen und Patienten zu fokussieren.

        Die Ausführungen in diesem Beitrag geben bewusst keine Systemarchitektur vor und treffen keine technischen Vorfestlegungen. Die abschließende Bestimmung der geeigneten Architekturmuster und Technologien zur Realisierung der Plattform und ihrer Schnittstellen wird erfolgen, nachdem funktionale und nicht funktionale Anforderungen im Detail ausgearbeitet und dokumentiert wurden.

        Autor

        Dr.-Ing. Matthias Koch ist Software Engineer am Fraunhofer IESE und leitet die Abteilung »Digital Innovation Design«. Seit 2012 beschäftigt er sich mit der Gestaltung innovativer Software-Lösungen, mit Kunden aus der Wirtschaft und in Forschungsprojekten. Dies umfasst die Themenfelder Requirements und User Experience Engineering sowie die Durchführung von Innovation Workshops. Besonders im Bereich »Digitale Ökosysteme« arbeitet Matthias Koch an der Gestaltung von Methoden und Werkzeugen für den Aufbau digitaler Plattformen.

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          Entdecken statt suchen: Prototyp für eine nationale Gesundheitsplattform

          Der Kernservice der hier skizzierten nationalen Gesundheitsplattform besteht darin, personalisierte Informationspfade bereitzustellen, die dem sich wandelnden Informationsbedarf folgen und den Umgang mit Gesundheitsinformationen erheblich erleichtern könnten. Um unsere Idee zu illustrieren, haben wir ein prototypisches Design entwickelt, das zeigt, wie die nationale Gesundheitsplattform einmal aussehen könnte.

          Patientinnen und Patienten nutzen immer häufiger das Internet, um sich jenseits des traditionellen Gesundheitssystems zu informieren. Dabei greifen sie bislang vor allem auf die großen Suchmaschinen zurück. Je nach Begriff zeigen Google & Co. Hunderttausende oder mehr Ergebnisse und es liegt in der Verantwortung der Informationssuchenden, in dieser Flut von Treffern die richtigen auszuwählen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, werden sie in diesem Auswahlprozess nicht nur von objektiven Kriterien geleitet, sondern vor allem von intransparenten algorithmischen Systemen und der eigenen Gefühlswelt.

          Die Logik unserer Produktvision ist eine andere: Patientinnen und Patienten entdecken Informationen, statt danach zu suchen. Das sogenannte Pull-Prinzip der Suchmaschinen weicht dem Push-Prinzip der Messengerdienste und relevante Informationen werden zum passenden Zeitpunkt angeboten. Die Information und Aufklärung im Gesundheitswesen sind kein punktuelles Ereignis mehr, sondern folgen einem strukturierten Prozess und berücksichtigen individuelle Präferenzen sowie Kontextbedingungen der Patientinnen und Patienten (vgl. Informationsvermittlung als Prozess begreifen).

          Vertrauen als Ausgangspunkt

          Anders als die Suche über eine Suchmaschine beginnt der Informationspfad nicht jenseits des Versorgungssystems, sondern in den Sprech- und Behandlungszimmern und überall dort, wo Patientinnen und Patienten personale Unterstützung erfahren. Denn möglicherweise entsteht das Vertrauen in die Plattform gerade nicht online, sondern wo Menschen sich von Angesicht zu Angesicht begegnen. Daher sieht unser Konzept vor, dass die Angehörigen der Gesundheitsberufe einen Informationspfad per SMS-Link oder auch über die elektronische Patientenakte „verordnen“ bzw. empfehlen können.

          Persönlicher Informationsfeed

          Bei der Nutzerauthentifizierung sieht unser Konzept vor, die digitale Gesundheits-ID zu verwenden, die die Krankenkassen ihren Versicherten zur Verfügung stellen. Auf diese Weise werden aufwändige Registrierungsprozesse und unnötige Zugangsschwellen vermieden. Nach erfolgtem Login auf der Plattform öffnet sich eine Benutzeroberfläche, die an die großen sozialen Netzwerke erinnert. Das hat den Vorteil, dass Nutzerinnen und Nutzer sich schnell und unkompliziert zurechtfinden.

          Unseren Prototyp haben wir LIV getauft. Das Akronym steht für „leicht“, „individuell“ und „vertrauenswürdig“. Wir haben eine Variante für mobile Endgeräte und eine Desktop-Variante entworfen. Perspektivisch sind auch eine akustische Schnittstelle und eine Sprachsteuerung des Informationssystems denkbar.

          Wie bei Facebook, LinkedIn und vielen anderen sozialen Netzwerken steht im Mittelpunkt der Oberfläche ein sogenannter „Feed“ mit kachelähnlichen Posts, der sich im Zeitverlauf mit Informationen füllt. Ein großer Unterschied zu den sozialen Netzwerken: Es gehen deutlich weniger Informationen ein, denn Ziel der Plattform ist, die Informationslast zu reduzieren und gleichzeitig die Qualität der Beiträge zu erhöhen. Die Inhalte werden daher in hohem Maße personalisiert und in Abhängigkeit von verfügbaren Kontextinformationen eingespielt.

          Wenn beispielsweise ein neues Medikament verordnet wurde, wird diese Kontextinformation bei vorliegender Nutzerfreigabe zum Beispiel über die elektronische Patientenakte an die Plattform weitergeleitet. Der Informationspfad zeigt dann in Echtzeit und vollautomatisch die passende Information zu dem Arzneimittel an. Kontextinformationen können aber auch aus vielen anderen Quellen, etwa von der Smartwatch, einem Sprachsystem oder über mobile Sensorik, in das Informationssystem einfließen und Anhaltspunkte für den situativen Informationsbedarf liefern.

          Integrierte Patienteninformation

          Die Informationspfade beziehen sich immer auf eine Erkrankung, werden also indikationsspezifisch angelegt. Der individuelle Zuschnitt des Informationsangebots ermöglicht grundsätzlich auch, unterschiedliche Indikationen zusammenzuführen, um ein integriertes und homogenes Angebot für Menschen mit mehreren Erkrankungen unterbreiten zu können.

          In unserer Produktvision haben wir einen Verlauf am Beispiel der Diagnose „Kniearthrose“ umgesetzt: Die fiktive Nutzerin Katharina Funke erhält zunächst eine Verdachtsdiagnose. Das ist der Beginn eines Weges durch unterschiedliche Instanzen des Gesundheitssystems von der fachärztlichen Diagnostik über die Entscheidung für eine Operation im Krankenhaus sowie die medizinische Rehabilitation bis hin zur beruflichen Wiedereingliederung: Der Informationspfad startet zunächst mit Basisinformationen zur Erkrankung, gefolgt von Informationen zum Versorgungssystem, zu Behandlungsalternativen und sozialrechtlichen Fragestellungen sowie Informationen zur Rehabilitation.

          Präventionspfade

          Das Prinzip der Informationspfade wird in unserer Produktvision am Beispiel der Erkrankung „Kniearthrose“ veranschaulicht. Das Grundprinzip der prozesshaften Informationsvermittlung ließe sich aber problemlos auch auf den Bereich der Prävention übertragen und sogar zielgruppenspezifisch und kultursensibel ausrichten. Auf diese Weise könnten gesunde Verhaltensweisen schrittweise eingeübt und verstärkt werden. Insbesondere vulnerable Gruppen ließen sich ohne Streuverluste zielgenau erreichen.

          Für die Gestaltung des individuellen Angebots greift das System auf die Informationen und Services einer Vielzahl zertifizierter Anbieter zurück und eröffnet den Nutzerinnen und Nutzern auf diese Weise eine breite Auswahl passender Angebote. Insofern ist es wahrscheinlich, dass zu einem Informationsanlass mehrere Angebote in Frage kommen. In einem solchen Fall wird das Angebot angezeigt, das die beste Bewertung von der Nutzercommunity erhalten hat. Über eine Schubladenfunktion lassen sich die übrigen Angebote einsehen und auswählen.

          Neues Wissen anwenden

          Unter den Informationen bietet der Pfad immer auch passende digitale Services an: Wer Informationen zu einem neuen Arzneimittel erhält, kann im nächsten Schritt das digitale Rezept einlösen. Nutzerinnen und Nutzern, die Informationen zu unterschiedlichen Behandlungsoptionen erhalten, wird anschließend ein Zweitmeinungsservice angeboten. Und den Informationen zu gesunder Ernährung folgen digitale Anwendungen mit Kochrezepten und Ernährungsplänen. Diese Verknüpfung von Informationen und Services hilft, neu erworbenes Wissen praktisch umzusetzen oder in Entscheidungen einfließen zu lassen.

          Verknüpfung von Informationen und relevanten Services

          Kein Informationspfad gleicht dem anderen: Die Inhalte folgen dynamisch dem individuellen Bedarf und berücksichtigen neben medizinischen Themen auch rechtliche und psychosoziale Fragestellungen. Das System bietet zudem Informationen an, nach denen Nutzerinnen und Nutzer möglicherweise gar nicht gesucht hätten. So kann beispielsweise noch vor Eintreten des Anspruchs auf Krankengeld proaktiv über die damit verbundenen Rechte und Pflichten informiert werden.

          Die Benutzeroberfläche könnte auch ganz anders aussehen und auch der Kernservice könnte ein anderer sein. Die Produktvision illustriert aber, dass eine nationale Gesundheitsplattform etliche Mehrwerte schaffen könnte, ohne selbst redaktionelle Inhalte zu erstellen. Sie zeigt, dass es möglich wäre, gute Informationen zu bündeln sowie Patientinnen und Patienten im Umgang mit Informationen zu entlasten. Die Qualitätsprüfung der Anbieterseite, die Umkehr des Suchmaschinenprinzips, die Personalisierung von Informationen und die prozessorientierte Vermittlung – all das lässt ein neues Format entstehen, das die Informationsverarbeitung erleichtert, informierte Entscheidungen unterstützt und Vertrauen in digitale Lösungen möglich macht.

          Literatur

          Bol N, Smit ES, Lustria MLA (2020): Tailored health communication: Opportunities and challenges in the digital era. Digital Health, 6, 1-3. (Quelle)

          Kynoch K, Ramis MA, Crowe L, Cabilan CJ, McArdle A. (2019): Information needs and information seeking behaviors of patients and families in acute healthcare settings: a scoping review. JBI Database System Rev Implement Rep, 17(6): 1130-1153. (Quelle)

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          Ohne Kontext ist alles nichts

          Wer ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt, muss meist viele Fragen zur Krankengeschichte beantworten. Ärztinnen und Ärzte stellen diese Fragen, um die Zahl der möglichen Diagnosen einzugrenzen. Diese sogenannte Anamnese ist ein fester Bestandteil der ärztlichen Diagnostik und die darin enthaltenen Kontextinformationen helfen, im nächsten Schritt die passende Behandlung zu finden. So lassen Kontextinformationen in den unterschiedlichsten Bereichen unseres Lebens Nutzen entstehen.

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          Informationsvermittlung als Prozess begreifen

          Viele Anbieter von Gesundheitsinformationen verfolgen gute Absichten. Sie möchten das Gesundheitsverhalten ihrer Adressaten positiv beeinflussen, Hilfestellung bei der Krankheitsbewältigung leisten oder Behandlungsentscheidungen unterstützen. Im digitalen Zeitalter verfehlen viele dieser Informationen jedoch das Nadelöhr der Aufmerksamkeit und verhallen wirkungslos in der ständig wachsenden Informationsflut.

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            Gesundheitsökosysteme erfolgreich etablieren – Vorbilder aus dem Ausland

            Dr. Tobias Silberzahn

            Ein Gesundheitsökosystem, wie es im Projekt „Trusted Health Ecosystems“ angestrebt wird, muss vielfältige Anforderungen erfüllen, wenn es Mehrwert im Gesundheitsbereich stiften will. Internationale Vorbilder zeigen: Ein erfolgreiches Betriebsmodell kombiniert die aktive Einbindung und Orchestrierung teilnehmender Akteure mit gemeinsamen technischen Standards.

            Digitale Ökosysteme haben in verschiedenen Industrien traditionelle Geschäftsmodelle verändert und dabei Wert für Kunden und Marktteilnehmer geschaffen. So vernetzen z. B. E-Commerce-Plattformen Anbieter und Kaufinteressenten direkt miteinander und ermöglichen so effizienten Handel. Solche offenen Ökosysteme könnten künftig auch im digitalen Gesundheitswesen eine Rolle spielen. Zu ihren typischen Merkmalen zählen:

            Multi-Stakeholder-Netzwerk. Ein offenes Ökosystem vereint eine Vielzahl von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen. Im Gesundheitswesen könnten dies zum Beispiel Patientinnen und Patienten, Leistungserbringer, Kostenträger und Anbieter von Produkten und Services sein.

            Co-Creation. Die Bereitstellung von Informationen und Services sowie die kontinuierliche Weiterentwicklung erfolgen nicht nur durch den Plattform-Betreiber, sondern auch durch Drittanbieter bzw. Stakeholder „auf der Plattform“. Auf diesem Prinzip basieren beispielsweise auch die „App Stores“ von Mobiltelefonanbietern, in denen Drittentwickler ihre Anwendungen zum Download anbieten.

            Selbstverstärkende Effekte. Der Mehrwert von Ökosystemen ist eng verknüpft mit einer hohen Adoptionsrate: Je mehr Akteure aktiv sind, desto mehr gewinnt das Ökosystem an Attraktivität und zieht so weitere Nutzende an. Bekannt ist dieser Mechanismus von sozialen Netzwerken, die teilweise rapide skalieren, sobald eine „kritische Masse“ an Nutzenden erreicht ist. Auch im digitalen Gesundheitsbereich könnten solche selbstverstärkenden Effekte auftreten: Je mehr Versicherte einen digitalen Service nutzen, desto relevanter wird die Anwendung für Leistungserbringer – und umgekehrt.

            Worauf es bei der Ausgestaltung von Gesundheitsökosystemen ankommt: Vier Erfolgsfaktoren für das Betriebsmodell

            Ein Kernelement erfolgreicher Ökosysteme ist die aktive Partizipation der Stakeholder. Ein weiteres ist die richtige organisatorische Ausgestaltung, damit das Ökosystem sein Potenzial vollständig entfalten kann. Vier Faktoren spielen dabei eine zentrale Rolle, wie die nachfolgenden Beispiele aus verschiedenen Ländern zeigen.

             1. Patientenpfade „end-to-end“

            Aus Nutzerperspektive ist die nahtlose Integration von Stakeholdern und Services ein wichtiger Mehrwert von Ökosystemen. Denn so entstehen Patientenpfade „end-to-end“, bei denen verschiedene Services ineinandergreifen und individuell zugeschnitten werden können, z. B. von der Terminbuchung zur (Tele-)Konsultation zur Verschreibung mittels E-Rezept und Medikamentenlieferung. Die Verknüpfung mit grundlegenden „Enabler-Anwendungen“ wie etwa der elektronischen Patientenakte ermöglicht dabei eine nahtlose Versorgung ohne „Systemwechsel“ und mit konsistenten Daten.

            Fallbeispiel: „Health Village“ in Finnland

            Das von finnischen Universitätskliniken entwickelte „Health Village“ umfasst virtuelle Einrichtungen („Hubs“) für verschiedene Versorgungszwecke (z. B. Notfälle, Reha, mentale Gesundheit), die über digitale Pfade („My Path“) je nach Patientendiagnose verknüpft werden. Nach ärztlicher Überweisung können Teilnehmende z. B. via Smartphone digitale Versorgungsleistungen wie Videosprechstunden oder Selbsthilfeprogramme abrufen. Mehr als 400 solcher Versorgungspfade ergänzen mittlerweile die Gesundheitsversorgung vor Ort.

             2. Konsequente Nutzerzentrierung

            Um eine möglichst hohe Adoptions- und Aktivitätsrate zu erzielen, sollten sich die Angebote des Ökosystems konsequent an den Bedürfnissen der Nutzenden ausrichten. Nutzerzentrierung bedeutet die Einbeziehung der am Ökosystem Beteiligten in die Weiterentwicklung der Services – was auch die Nutzerbindung vertieft.

            Fallbeispiel: „Sundhed.dk“ in Dänemark

            Über ein „User Panel“ beteiligt das dänische Gesundheitsportal „Sundhed.dk“ Patientinnen und Patienten aktiv an der Weiterentwicklung von E-Health-Anwendungen. So wird z. B. über Fokusgruppen, begleitete Nutzertests, Interviews oder Fragebögen gezielt Nutzerfeedback erhoben. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse (z. B. Feedback zu existierenden Lösungen, Wünsche zu neuen Funktionalitäten) fließen in die Weiterentwicklung des Portals und einzelner E-Health-Lösungen ein – was zu einer Verbesserung der Nutzererfahrung und somit letztendlich zu einem höheren Nutzen für Patientinnen und Patienten führen soll.

             3. Governance zur Einbindung der Stakeholder

            Damit die Angebote im Ökosystem sinnvoll ineinandergreifen können, braucht es geeignete Governance-Mechanismen. Dem Betreiber kommt dabei die Rolle des Orchestrators zu, die Stakeholder zusammenzubringen und die Rahmenbedingungen für ein bedarfs- und lösungsorientiertes Zusammenspiel zu schaffen. Eine klare Governance regelt dabei die Zuständigkeiten der am Ökosystem beteiligten Akteure.

            Fallbeispiel: Gesundheitsplattform „Well“ in der Schweiz

            Ursprünglich von Krankenkassen und Gesundheitsanbietern gegründet und entwickelt, sind inzwischen auch Ärztenetzwerke und andere Partner Teil von „Well“. Die Einbindung der verschiedenen Akteure wird von der Well AG orchestriert.

             4. Technische Interoperabilität

            Erfolgreiche Ökosysteme ermöglichen den reibungslosen Informationsaustausch zwischen Stakeholdern durch einheitliche Schnittstellen und Standards. Festgelegt werden sie typischerweise vom Betreiber des Ökosystems unter Berücksichtigung der internationalen Regelungen zur Interoperabilität. Der Standard „Fast Healthcare Interoperability Resource“ (FHIR) schafft im Gesundheitsbereich z. B. eine einheitliche Grundlage für nationalen und grenzüberschreitenden Datenaustausch.

            Fallbeispiel: FHIR in Israel

            Israel setzt bereits auf FHIR als Standard im Gesundheitsbereich. Mit einem Mix aus Anreizsystemen und regulatorischen Vorgaben will Israel Gesundheitsdaten mit diesem Standard besser nutzbar machen. Die israelischen Health Maintenance Organisations (die gleichzeitig Versicherer, Leistungserbringer und Krankenhausbetreiber sind), Forschungseinrichtungen, Start-ups und weitere Gesundheitsanbieter – sie alle sollen vom besseren Gesundheitsdatenaustausch profitieren.

            Die Zukunft offener Ökosysteme im Gesundheitsbereich

            Ein offenes Gesundheitsökosystem hätte das Potenzial, viele Stakeholder im deutschen Gesundheitswesen mit Bürgerinnen und Bürgern zu verknüpfen. Dabei könnte auf bestehenden Strukturen aufgesetzt werden: So existiert mit der TI bereits eine nationale Telematikinfrastruktur. Elektronische Patientenakte und E-Rezept wiederum könnten das „Fundament“ für den Austausch von Gesundheitsdaten in einem offenen Gesundheitsökosystem sein.

            Die beschriebenen Erfolgsfaktoren zeigen, dass die Anforderungen, erfolgreiche Ökosysteme aufzubauen, vielfältig sind: Es braucht nutzerzentrierte Konzepte und effektive Steuerungsstrukturen, um verschiedene Akteure zu orchestrieren und technische Standards zu etablieren.

            Um dies zu erreichen, kann z. B. eine Organisation etabliert werden, welche die strategischen Linien für das Gesundheitsökosystem vorgibt und das Ökosystem orchestriert – mit der Möglichkeit einer direkten Partizipation durch die Stakeholder und Drittanbieter im Ökosystem.

            Autor

            Tobias Silberzahn ist promovierter Biochemiker und arbeitet als Partner im Berliner Büro von McKinsey. In seiner Arbeit dreht sich alles um das Thema Gesundheitsinnovation und „Health Tech Business-Building“. Zusätzlich leitet Tobias Silberzahn das globale Health Tech Network, ein Netzwerk von über 1.800 CEOs/Gründern digitaler Gesundheitsfirmen, 250 Investoren und 300 Corporates, und ist Mitherausgeber des jährlichen „eHealth Monitors“, einem Buch zur Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems im MWV-Verlag. Innerhalb von McKinsey leitet Tobias Silberzahn ein präventives Gesundheitsprogramm, das die Themen Schlaf, Ernährung, Fitness und Stressmanagement abdeckt.

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              InfoCure: Qualität sichtbar machen

              In unserer Vision einer nationalen Gesundheitsplattform geht es vor allem um Vertrauen. Das umfasst, dass die Nutzerinnen und Nutzer sich auf die Qualität der angebotenen Inhalte und Dienste absolut verlassen können. Aber wie kann diesem Anspruch in Zeiten von Desinformation und Verschwörungsmythen Rechnung getragen werden? In einem Teilprojekt mit dem Titel „InfoCure“ gehen wir der Frage nach, wie gute Informationsqualität sichtbar gemacht und Desinformation eingedämmt werden kann.

              Immer mehr Menschen informieren sich im Internet zu gesundheitsrelevanten Fragen und nutzen dabei die großen Social-Media-Pattformen wie YouTube, TikTok, Facebook oder Telegram. Fehl- und Falschinformationen können sich über diese Netzwerke schneller verbreiten als jemals zuvor. Gleichzeitig bieten die Algorithmen der Plattformbetreiber immer wieder Inhalte an, die auf früheren Suchmustern aufbauen und die Annahmen und Einstellungen der Nutzerinnen und Nutzer bestätigen. Verstärkt werden diese „Reinforcement Loops“ durch den sozialen Raum des digitalen Netzwerks, der nicht selten die eigene Meinung spiegelt und so einen Nährboden für Desinformation und Verschwörungsmythen liefert.

              “Die rasante Ausbreitung von Desinformation über digitale Plattformen hat sich weltweit zu einer ernsten Bedrohung für die öffentliche Gesundheit entwickelt.“

              Andy Pattison, WHO (2021)

              Informationsqualität als Markenkern

              Vertrauen entsteht in digitalen Welten zum Beispiel durch den verantwortungsvollen Umgang mit personenbezogenen Daten oder durch geeignete Maßnahmen zur Erhöhung der Datensicherheit. Daneben bilden aber die Qualität und Verlässlichkeit der angebotenen Informationen und Dienstleistungen eine Grundbedingung dafür, dass Vertrauen in digitale Infrastrukturen entsteht. Die sozialen Netzwerke liefern bislang praktisch keine Anhaltspunkte für die Vertrauenswürdigkeit und Seriosität einer Informationsquelle, sodass die methodische Güte der Informationen kaum nachzuvollziehen ist. Ähnliches gilt für digitale Dienstleistungen. Eine nationale Gesundheitsplattform müsste hier einen klaren Unterschied machen.

              Strategien zur Qualitätssicherung von Gesundheitsinformationen fokussieren bislang meist auf die Prüfung einzelner Informationselemente wie Texte oder Videos. Dieser Ansatz geht jedoch mit erheblichen personellen und finanziellen Aufwänden einher und kostet vor allem eins: Zeit. Digitale Ökosysteme und ihre Plattformansätze sind aber gerade deshalb so erfolgreich, weil sie ihre Leistungen weitgehend digital erbringen und so innerhalb sehr kurzer Zeit sehr schnell wachsen können.

              Zertifizierung von Anbietern

              Um mit dieser Geschwindigkeit  mithalten zu können, kommt für Plattformbetreiber nur ein Qualitätssicherungsansatz in Frage, der sich nicht auf einzelne Informationen konzentriert, sondern auf die Prüfung der Anbieter von Informationen. Zur Beurteilung könnten dabei strukturelle Aspekte (z. B. Expertise) und Kriterien der Prozessqualität (z. B. Einsatz bestimmter Methoden) herangezogen werden. Um ausreichend Sicherheit für die Nutzerinnen und Nutzer der Plattform zu schaffen, dürfte eine Selbstverpflichtung zur Qualitätssicherung jedoch nicht genügen. Stattdessen wäre eine externe Prüfung durch eine unabhängige Stelle im Sinne eines Zertifizierungsverfahrens erforderlich. Um dabei die Strukturen und Prozesse eines Anbieters belastbar erfassen zu können, bietet sich ein gestuftes, auditbasiertes Verfahren an.

              Über eine derart qualitätsorientierte Auswahl vertrauenswürdiger Informationsanbieter könnte das Risiko von Fehl- und Falschinformationen auf ein Minimum begrenzt werden. In Kombination mit anderen Instrumenten wie Nutzerrückmeldungen und digitalen Review-Verfahren ließe sich auch für die Informations- und Servicequalität der Plattform ein Vertrauensraum schaffen, der die Nutzerinnen und Nutzer bei der Suche nach vertrauenswürdigen Informationen unterstützt und spürbar entlastet.

              Vielseitige Einsatzmöglichkeiten

              Anbieter von Gesundheitsinformationen und Services könnten sich über eine Zertifizierung für die Teilnahme am digitalen Ökosystem der nationalen Gesundheitsplattform qualifizieren. Bei dieser Verwendung des Zertifikats im Sinne einer Zugangsvoraussetzung müsste es jedoch nicht bleiben: Ist eine Zertifizierung einmal erfolgt, ließe sich ein digitales Zertifikat für viele weitere Zwecke einsetzen.

              Betreiber großer Suchmaschinen könnten darüber erstmalig seriöse Anbieter erkennen und dieses neue Wissen in die Relevanzberechnungen der Trefferlisten einfließen lassen. Vertrauenswürdige Informationsanbieter könnten auf Plattformen und Suchmaschinen entsprechend gekennzeichnet werden, und Hintergrundinformationen zum Anbieter wären für Nutzerinnen und Nutzer einsehbar. So würden all jene Anbieter belohnt, die einen großen Aufwand betreiben, um die Qualität ihrer Angebote zu sichern.

              Natürlich gelten nicht für alle Informationstypen dieselben Regeln. So kann beispielsweise ein Erfahrungsbericht aus Patientensicht wertvolle Informationen transportieren, die eher psychosoziale Themen der Krankheitsbewältigung betreffen. Bei der Qualitätsbewertung solcher Angebote sind daher besondere Kriterien zu berücksichtigen. Ähnliches gilt für sozialrechtliche Informationen, die ganz andere Qualitätsanforderungen erfüllen müssen als medizinische Inhalte.

              Schließlich ist zu bedenken, dass neben den reinen Informationsangeboten auch digitale Dienste wie Online-Terminvereinbarungen, Datenbanken, Videosprechstunden oder Zweitmeinungsservices existieren, die wiederum einer gesonderten Betrachtung bedürfen. Mittel- bis langfristig kann und sollte das ursprüngliche Zertifikat für medizinische Patienteninformationen modular um zusätzliche Einsatzbereiche erweitert werden.

              Internationaler Ansatz

              Die Qualitätssicherung von Gesundheitsinformationen ist im digitalen Zeitalter eine Herausforderung, die sich nicht auf nationaler Ebene bewältigen lässt. Deshalb sind internationale Standards zu berücksichtigen und im Interesse der Interoperabilität strikt einzuhalten. Darüber hinaus sollte die Entwicklung neuer Qualitätsstandards in eine internationale Fachdiskussion eingebettet werden, um über nationale Grenzen hinaus Wirksamkeit zu entfalten.

              Bei der Suche nach einschlägigen Standards und Projekten sind wir auf eine Initiative der US-amerikanischen National Academy of Medicine (NAM) aufmerksam geworden: Diese hat im Jahr 2021 mit einer unabhängigen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern grundlegende Prinzipien und Erkennungsmerkmale für glaubwürdige Quellen von Gesundheitsinformationen entwickelt und international publiziert. Das Ziel der Initiative bestand vor allem darin, sozialen Netzwerken und Plattformen Kriterien an die Hand zu geben, um Anbieter vertrauenswürdiger Gesundheitsinformationen zu erkennen.

              Die Prinzipien orientieren sich an Aspekten wie wissenschaftliche Fundierung, Objektivität, Transparenz oder Verantwortungsbewusstsein und liefern eine gute Basis für die Bewertung von Informationsanbietern. Um sie als Grundlage eines Zertifizierungsverfahrens heranziehen zu können, bedarf es jedoch einer weitergehenden Operationalisierung. Im Dialog mit internationalen Fachorganisationen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Idee entstanden, die Prinzipien in ein konkretes Indikatorensystem zu überführen, das die Grundlage eines auditbasierten Zertifizierungsverfahrens für Anbieter von Gesundheitsinformationen liefern könnte. Die Idee folgt dabei einer klaren und keineswegs ungewöhnlichen Aufgabenteilung: Die Definition von Rahmenvorgaben und Standards wird auf internationaler Ebene konsentiert, während die eigentliche Zertifizierung durch nationale Institutionen oder Organisationen erfolgt.

              Arbeitsgruppe hat ihre Arbeit aufgenommen

              In der Vergangenheit haben sich bereits viele Initiativen formiert, die mit der Erfassung, Beschreibung und Entwicklung von Informationsqualität im Gesundheitswesen befasst sind und eine sehr gute Ausgangsbasis für die Entwicklung eines solchen Indikatorensets liefern. Der Unterschied zu diesen bestehenden Initiativen liegt in der klaren Fokussierung auf Anbieter, der internationalen Standardisierung und dem wachsenden Druck auf die großen Tech-Unternehmen beim Umgang mit Desinformation: Der geschilderte Ansatz eröffnet die große Chance, qualitativ hochwertige Informationen für Patientinnen und Patienten leichter zugänglich zu machen, gesunde Entscheidungen durch gute Informationen zu unterstützen und damit signifikant zur Förderung der Gesundheitskompetenz beizutragen.

              „Digitale Plattformen haben die einzigartige Kraft, den Zugang zu hochwertigen Gesundheitsinformationen weltweit zu ermöglichen.“

              Victor J. Dzau, NAM (2021)

              Im Jahr 2023 hat die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit dem Deutschen Netzwerk evidenzbasierte Medizin e. V. und dem Deutschen Netzwerk Gesundheitskompetenz e. V. eine internationale Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die die Aufgabenstellung im Rahmen eines wissenschaftlichen Diskussionsbeitrags präzisieren und erste Vorschläge für die Entwicklung eines Indikatorensystems erarbeiten wird. Mittelfristig soll mit InfoCure ein internationales Zertifizierungssystem für glaubwürdige Anbieter von Gesundheitsinformationen und -services entstehen, das zunächst in Deutschland implementiert und im nächsten Schritt international skaliert werden soll.

              Patientenbeauftragter übernimmt Schirmherrschaft

              Im Sommer 2024 hat der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze, die Schirmherrschaft für InfoCure übernommen. Schwartze bedankt sich ausdrücklich „für die Initiative und das Engagement, gute und gesicherte gesundheitliche Informationen besser auffindbar und individuell anwendbar zu machen.“ Er ist überzeugt, dass InfoCure „das Potential hat, Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zu gewinnen und dabei hilft, Fehl- und Falschinformationen zu bekämpfen.“

              Der Patientenbeauftragte Stefan Schwartze unterstützt InfoCure.

              Literatur

              Burstin H, Curry S, Ranney M L, Arora V, Boxer Wachler B, Chou W-Y S, Correa R, Cryer D, Dizon D, Flores E, Harmon G, Jain A, Johnson K, Laine C, Leininger L, McMahon G, Michaelis L, Minhas R, Mularski R, Oldham J, Padman R, Pinnock C, Rivera J, Southwell B, Villarruel A, Wallace K (2023). Identifying Credible Sources of Health Information in Social Media: Phase 2—Considerations for Non-accredited Nonprofit Organizations, For-profit Entities, and Individual Sources. NAM Perspectives. Discussion Paper, National Academy of Medicine, Washington, DC. https://doi.org/10.31478/202305b

              Kington R, Arnesen S, Chou W-Y S, Curry S, Lazer D, Villarruel A (2021). Identifying Credible Sources of Health Information in Social Media: Principles and Attributes. NAM Perspectives. Discussion Paper, National Academy of Medicine, Washington, DC. https://doi.org/10.31478/202107a

              Schaeffer D, Berens E-M, Gille S, Griese L, Klinger J, de Sombre S, Vogt D, Hurrelmann K (2021). Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland – vor und während der Corona Pandemie: Ergebnisse des HLS-GER 2. Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK), Universität Bielefeld. Bielefeld. DOI: https://doi.org/10.4119/unibi/2950305

              WHO (2021). WHO online consultation meeting to discuss global principles for identifying credible sources of health information on social media. Meeting Summary. Abrufbar unter: Summary-Global principles for identifying credible sources of health information on social media (who.int) (Zugriff am 25.07.2023).

              WHO (2022). WHO and NAM encourage digital platforms to apply global principles for identifying credible sources of health information. WHO Departmental News, 24. Februar 2022. Abrufbar unter: WHO and NAM encourage digital platforms to apply global principles for identifying credible sources of health information (Zugriff am 25.07.2023).

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                Gesundheitskompetenz und Infodemie

                Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler
                Prof. Dr. Doris Schaeffer

                Gesunde Entscheidungen erfordern gute Informationen. Gesundheitskompetenz bildet die Summe der Fähigkeiten, die wir benötigen, um uns diese Informationen im Alltag zu erschließen. In einem Zeitalter, in dem Informationen im Überfluss vorhanden sind und digitale Plattformen einen nahezu uneingeschränkten Zugang zu Wissen bieten, haben viele Menschen jedoch große Schwierigkeiten, sich in der Informationsflut zurechtzufinden. In Verbindung mit dem Phänomen der sich im Netz immer schneller ausbreitenden Fehl- und Falschinformationen entsteht ein gefährliches Gemisch, das die Gesundheitssysteme schon heute vor große Herausforderungen stellt.

                Der Begriff der Gesundheitskompetenz (engl. Health Literacy) fasst ein ganzes Bündel unterschiedlicher Fähigkeiten zusammen. Es reicht von der Suche nach passenden Informationen über das Verstehen, die Beurteilung bis zur Umsetzung neuen Wissens auf der Verhaltensebene. Der Begriff bezeichnet nicht nur das Verständnis gesundheitsrelevanter Begriffe und Konzepte, sondern schließt auch Problemlösungs- und Interaktionskompetenzen sowie den Umgang mit Informationstechnologien ein. Dazu gehört auch der kompetente Umgang mit persönlichen Daten sowie die Fähigkeit, Informationen aus digitalen Quellen zu prüfen, Desinformation zu erkennen und entsprechend einzuordnen.

                “Gesundheitskompetenz „umfasst das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten von Menschen, gesundheitsrelevante Informationen in unterschiedlicher Form zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag … Entscheidungen treffen zu können.“

                Kristine Sørensen (2012)

                Wie es um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung steht, zeigt unter anderem der “European Health Literacy Population Survey“ (HLS19) aus dem Jahr 2021, an dem 17 europäische Länder beteiligt waren. Demnach berichtete fast die Hälfte der Befragten von erheblichen Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen. Dabei fiel die Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit und Qualität von Informationen am schwersten. Zudem hatten rund 40 Prozent der Befragten über alle Länder hinweg eigenen Angaben zufolge Schwierigkeiten, aufgrund von Informationen aus den Medien zu entscheiden, wie sie sich vor Krankheiten schützen können. In Deutschland beträgt dieser Anteil sogar rund 61 Prozent, und auch die Gesundheitskompetenz fällt schlechter aus: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung – konkret 58,8 Prozent – weisen hierzulande eine geringe Gesundheitskompetenz auf.

                Schwerwiegende Folgen

                Probleme im Umgang mit Gesundheitsinformationen haben nicht nur Folgen für die individuelle Gesundheit, sondern wirken sich auf das Gesundheitssystem insgesamt aus. So geht eine geringe Gesundheitskompetenz häufig mit ungesundem Verhalten und einer deutlich intensiveren Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems – insbesondere der Krankenhaus- und Notfallversorgung, aber auch Arztbesuchen – einher. Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz haben Schwierigkeiten, Packungsbeilagen von Arzneimitteln zu verstehen, Informationen zu einer Erkrankung richtig einzuschätzen, Behandlungsoptionen abzuwägen oder die richtige Anlaufstelle im Gesundheitssystem auszumachen. Sie nehmen präventive Angebote seltener in Anspruch und weisen höhere Morbiditätsraten und sogar vorzeitige Sterbefälle auf.

                Von der Infodemie zur Infokalypse

                Auch, wenn digitale Technologien den Umgang mit Informationen erheblich erleichtern können, erhält die empirische Befundlage zur Gesundheitskompetenz unter dem Einfluss der digitalen Transformation eine neue Brisanz: Die Reiz- und Sinnesüberflutung durch Informationen ist im digitalen Zeitalter selbst zu einem Gesundheitsrisiko geworden, und die Verbreitung irreführender und auch widersprüchlicher Informationen sorgt zunehmend für Verunsicherung. Im Netz treffen Menschen immer häufiger auf Bots und täuschend echte Videomanipulationen, die die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen lassen. Der Technologieforscher und IT-Berater Aviv Ovadya zeichnet in diesem Zusammenhang das dystopische Bild einer „Infokalypse“, in der moderne Technologien Wahrheit und Vertrauen vollständig erodieren lassen.

                Die Echokammern der sozialen Netzwerke lassen schon heute abgeschottete Öffentlichkeiten entstehen, in denen sich falsche und irreführende Informationen mit hoher Geschwindigkeit „viral“ verbreiten können. Um dieses Phänomen zu beschreiben, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Begriff der „Infodemie“ geprägt. Er bezieht sich nicht nur auf die rasche Ausbreitung, sondern auch auf die gesundheitlichen Risiken, die mit Desinformation einhergehen.

                “Es ist unverkennbar, dass digitale Gesundheit die Gegenwart und Zukunft unserer Gesundheitssysteme darstellt, daher müssen wir sicherstellen, dass es keine Gewinner oder Verlierer gibt, sondern dass jeder profitiert und niemand zurückgelassen wird.”

                Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa (2023)

                Eine internationale Vergleichsstudie der WHO für die Region Europa aus dem Jahr 2023 offenbart, dass viele Länder zwar große Fortschritte im Aufbau der technischen Infrastruktur verzeichnen, aber nur die Hälfte von ihnen über Konzepte zur Verbesserung der digitalen Gesundheitskompetenz verfügt. Hier droht das Risiko ungleicher Gesundheitschancen infolge einer sich verschärfenden digitalen Spaltung der Gesellschaft.

                Resilienz gegen Desinformation

                Verfügen Menschen über eine hohe Gesundheitskompetenz, sind sie besser in der Lage, falsche oder irreführende Informationen zu erkennen und entsprechend einzuordnen. Gesundheitskompetenz kann folglich die Resilienz und Widerstandsfähigkeit gegen Desinformation stärken und so gesundheitliche Risiken in der Bevölkerung verringern. Sie ist ein wichtiger Schlüsselfaktor für eine gelingende digitale Transformation des Gesundheitswesens. Deshalb ist es an der Zeit, zu handeln und Maßnahmen zur Förderung der Gesundheitskompetenz zu ergreifen. Dabei geht es keineswegs nur darum, die individuellen Kompetenzen und Ressourcen der Bevölkerung zu fördern. Um die Situation für Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz zu verbessern, bedarf es auch eines nutzerfreundlichen Gesundheitssystems, das Anforderungen reduziert und den Umgang mit Informationen erleichtert.

                Es bedarf nutzerfreundlicher und nutzenbringender digitaler Anwendungen und Informationsangebote, die die individuellen Lernvoraussetzungen, Bedarfe und Präferenzen der Nutzerinnen und Nutzer berücksichtigen und wirksame Mechanismen zur Qualitätssicherung vorhalten. Schließlich braucht es digitale Orte, an denen sich Patientinnen und Patienten sicher bewegen können, Datenschutz und ein größtmögliches Maß an Datensicherheit gewährleistet wird und an denen sie kuratierte Informationen erhalten, um auf dieser Basis im Behandlungsprozess mitwirken und gesunde Entscheidungen treffen zu können.

                Literatur

                Kickbusch I, Pelikan J M, Apfel F, Tsouros A D (‎2013)‎. Health literacy: the solid facts. World Health Organization. Regional Office for Europe. https://apps.who.int/iris/handle/10665/326432

                Rudd R (2006). The Health Literacy Environment of Hospitals and Health Centers. National Center For the Study of Adult Learning and Literacy. www.hsph.harvard.edu/healthliteracy

                Schaeffer D, Vogt D, Quenzel G, Berens E M, Messer M, Hurrelmann K (2017). Health Literacy in Deutschland. In: D. Schaeffer und J M Pelikan (Hrsg.), Health Literacy: Forschungsstand und Perspektiven. Bern.

                Schaeffer D, Berens E-M, Gille S, Griese L, Klinger J, de Sombre S, Vogt D, Hurrelmann K (2021). Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland vor und während der Corona Pandemie. Ergebnisse des HLS-GER 2. Bielefeld. Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK), Universität Bielefeld.

                Sørensen K, Van den Broucke S, Fullam J, Doyle G, Pelikan J, Slonska Z, Brand H, European Consortium Health Literacy Project (2012). Health literacy and public health: a systematic review and integration of definitions and models. MC Public Health 12, 80. DOI: 10.1186/1471-2458-12-80

                The HLS19 Consortium of the WHO Action Network M-POHL (2021). International Report on the Methodology, Results, and Recommendations of the European Health Literacy Population Survey 2019-2021 (HLS19) of M-POHL. Austrian National Public Health Institute. Vienna.

                Warzel C (2018). Believable: The Terrifying Future of Fake News. https://www.buzzfeednews.com/article/charliewarzel/the-terrifying-future-of-fake-news

                WHO – World Health Organization (2020). Infodemic management: a key component of the COVID-19 global response. Weekly Epidemiological Record 95(16), 145–148.

                WHO – World Health Organization (2023). The ongoing journey to commitment and transformation: digital health in the WHO European Region. WHO Regional Office for Europe. Copenhagen.

                Autor/Autorin

                Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler ist als Co-Director mitverantwortlich für das Gesundheitsprogramm der Bertelsmann Stiftung. Zuvor arbeitete er als geschäftsführender Gesellschafter der Patientenprojekte GmbH, einer auf den Bereich der Patientenkommunikation spezialisierten Organisations- und Unternehmensberatung. Von 2011 bis 2015 war Schmidt-Kaehler Bundesgeschäftsführer der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). Er ist Mitglied im Expertenrat des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz.

                Prof. Dr. Doris Schaeffer ist Senior Professorin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, Ko-Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Gesundheitskompetenzforschung (IZGK) und Senior Fellow an der Hertie School of Governance. Sie ist Initiatorin und Mitherausgeberin des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz in Deutschland und Mitglied des 2018 gegründeten EHII Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL). Von 2010 bis 2014 war Schaeffer Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen des Bundesministeriums für Gesundheit.

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                  Trusted Health Ecosystems: Unser Projektansatz

                  Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler
                  Dr. Inga Münch

                  Die digitale Transformation durchdringt und gestaltet unser Leben in ungeahnter Weise und mit wachsender Geschwindigkeit. Eben dieses Tempo wie auch die disruptive Schlagkraft der damit verbundenen Veränderungen fordert unserer Gesellschaft große Anpassungsleistungen ab. Digitale Plattformen spielen dabei eine Schlüsselrolle, denn sie stellen die Infrastruktur und die Dienstleistungen bereit, die diesen Wandel vorantreiben.

                  Digitale Ökosysteme haben mit ihren Plattformen ganze Wirtschaftssektoren grundlegend verändert. Das gilt für die Art und Weise, wie Menschen miteinander interagieren und kommunizieren ebenso wie für die Vermarktung von Waren und Dienstleistungen oder den Zugang zu Bildungs- und Informationsangeboten. Plattformen beeinflussen die Arbeitswelt, haben die Medienlandschaft auf den Kopf gestellt und die Machtverhältnisse in der Mobilitätsbranche neu geordnet. Warum also sollte es dem Gesundheitswesen anders ergehen?

                  Neue Machtverhältnisse

                  Global agierende Tech-Unternehmen drängen mit ihren Plattformen auch in den Gesundheitsbereich vor – mit großen Potenzialen für ein modernes, patientenzentriertes und ständig lernendes Gesundheitssystem. Netzwerk- und Skaleneffekte sorgen dabei für beeindruckende Möglichkeiten des Wachstums, bergen jedoch auch Gefahren für unsere solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung. Eines ist sicher: Die digitalen Plattformen werden die Machtverhältnisse in den Gesundheitssystemen fundamental verändern – und es liegt in unserer Verantwortung, ihre innovative und steuernde Kraft im Sinne des Gemeinwohls zu nutzen und zu lenken (vgl. Video: Die Kraft der Plattformökonomie im Gesundheitswesen).

                  Plattformstrategien für nationale Gesundheitssysteme

                  Für öffentliche und zivilgesellschaftliche Akteure ist es an der Zeit, eigene Plattformen zu etablieren und die digitale Infrastruktur aktiv mitzugestalten, um so wertebasierte Leitplanken für das digitale Gesundheitswesen der Zukunft zu setzen. Nationale Gesundheitssysteme benötigen eigene Plattformstrategien, um sich auf dem neuen Gesundheitsmarkt zu positionieren. Im Projekt „Trusted Health Ecosystems“ zeichnen wir diesen Weg vor und entwickeln ein ganz konkretes Bild einer nationalen Gesundheitsplattform der Zukunft. Damit möchten wir zeigen, welcher Nutzen im konzertierten Zusammenspiel von Staat, Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft entstehen könnte (vgl. Unser Konzept in der Gesamtschau).

                  Gesundheitskompetenz fördern

                  Im Mittelpunkt unserer Produktidee steht die Vermittlung personalisierter Informationen und Services für Patientinnen und Patienten. Damit greifen wir die Befundlage zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung auf: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung berichtet demzufolge von erheblichen Schwierigkeiten, gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden (vgl. Gesundheitskompetenz: Herausforderung der Zukunft). Ohne diese Grundvoraussetzung ist es Patientinnen und Patienten jedoch kaum möglich, informierte Entscheidungen zu treffen und aktiv am Behandlungsprozess mitzuwirken. Durch die Bündelung und intelligente Vermittlung kuratierter Informationen könnte die Plattform den Umgang mit Informationen spürbar erleichtern – und die Informationsarchitektur im Gesundheitswesen verändern.

                  Inspiration

                  Die Bertelsmann Stiftung kann und wird diese Plattform nicht selbst umsetzen und betreiben, denn die bloße Bereitstellung einer digitalen Infrastruktur würde hier viel zu kurz greifen. Um ein digitales Ökosystem wachsen zu lassen, das für alle Beteiligten Nutzen stiftet, bedarf es nicht nur einer gesetzlichen Grundlage, sondern vor allem auch der Einsicht und des gemeinsamen Willens aller relevanten Akteure des Gesundheitssystems. Unsere Aufgabe als Stiftung sehen wir deshalb darin, all jene zu inspirieren, die diese Vision gemeinsam verwirklichen könnten.

                  Internationaler Kontext

                  Digitale Ökosysteme haben die Welt enger vernetzt als jemals zuvor. Ihre Plattformen passen sich zwar an nationale Gegebenheiten an, werden aber meist grenzüberschreitend angeboten. So entstehen Herausforderungen, die sich auf nationaler Ebene oft nicht mehr bewältigen lassen. Internationale Zusammenarbeit und Koordination sind daher entscheidend, um Risiken abzuwehren und die Chancen zu nutzen, die diese Transformation mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund haben wir unsere Vision einer nationalen Gesundheitsplattform von Anfang an in einen internationalen Kontext gesetzt und mit internationalen Organisationen aus Europa und darüber hinaus diskutiert. Das gilt auch und insbesondere für Qualitäts-, Sicherheits- und Interoperabilitätsstandards, die eine solche Plattform betreffen (vgl. InfoCure: Qualität sichtbar machen).

                  Projektergebnisse in Echtzeit

                  Spätestens seit dem Durchbruch KI-gestützter Sprachmodelle bekommen wir einen ersten Eindruck von der exponentiell wachsenden Geschwindigkeit, in der die digitale Transformation unser Leben prägt und verändert. Angesichts dieser Schnelllebigkeit haben wir uns entschieden, vom bislang üblichen Modell abzuweichen und Arbeitsergebnisse nicht erst am Ende eines Projekts, sondern „in Echtzeit“ zu veröffentlichen. Das hier vorgestellte Konzept wird sich also noch weiterentwickeln. Viele Beiträge und neue Abschnitte werden folgen und das Bild der nationalen Gesundheitsplattform schärfen.

                  Autor/Autorin

                  Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler ist als Co-Director mitverantwortlich für das Gesundheitsprogramm der Bertelsmann Stiftung. Zuvor arbeitete er als geschäftsführender Gesellschafter der Patientenprojekte GmbH, einer auf den Bereich der Patientenkommunikation spezialisierten Organisations- und Unternehmensberatung. Von 2011 bis 2015 war Schmidt-Kaehler Bundesgeschäftsführer der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). Er ist Mitglied im Expertenrat des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz.

                  Dr. Inga Münch verantwortet das Projekt „Trusted Health Ecosystems“ der Bertelsmann Stiftung. Zuletzt hat sie in verschiedenen Projekten an den Schnittstellen Patientenzentrierung und digitale Gesundheit gearbeitet. Sie ist Gesundheitswissenschaftlerin und hat zum Konzept gesundheitskompetenter Organisationen promoviert. Zuvor hat sie in der Forschung an wissenschaftlichen Projekten im Bereich Gesundheitsbildung, Patientenorientierung und Gesundheitssystemforschung gearbeitet.

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                    Digitale Ökosysteme: Attraktivität als Transformationsmodell

                    Dr. Matthias Naab
                    Dr. Marcus Trapp

                    Digitale Ökosysteme und Plattformökonomie können allen daran Beteiligten so viele Vorteile bieten, dass sie als Kooperationsmodell schon ganze Lebensbereiche verändert haben. Die folgende Übersicht beschreibt, wodurch digitale Ökosysteme mit ihren Plattformen so attraktiv werden und was zu tun ist, um diese innovative Kraft zu mobilisieren.

                    Digitale Ökosysteme ...

                    ... sind attraktiv

                    Digitale Ökosysteme müssen echte Mehrwerte bieten, denn nur so überzeugen sie die unabhängigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer beizutreten. Ein wesentlicher Pluspunkt ist der Zugang zu einer großen Zahl anderer Ökosystemteilnehmer, die je nach eigener Rolle für Angebot oder Nachfrage sorgen. Diese Community kann durch ihre Vielfalt wie auch durch ihre breite geografische Verteilung Vorteile bieten. Um möglichst viele Menschen, Organisationen und Unternehmen anzuziehen und zu überzeugen, etablieren digitale Ökosysteme oft keine oder kaum Zugangsbeschränkungen (Choudary 2017).

                    Besonders attraktiv wird die Vermittlung über die digitale Plattform aber durch eine starke Harmonisierung in der Vermittlung und eine äußerst einfache Nutzung mit sehr guter User Experience. Nur so ist der Zugang zu einer großen Zahl anderer Ökosystemteilnehmer effizient möglich. In diese Harmonisierung investiert der Initiator und Betreiber der digitalen Plattform meist viel Zeit und Geld: Sie erstreckt sich bei kommerziellen digitalen Ökosystemen über geschäftliche Aspekte wie das Geschäftsmodell, technische Aspekte wie einen einheitlichen Zugriff über APIs und rechtliche Aspekte wie einheitliche Vertragsbeziehungen. Die Umsetzung resultiert in zahlreichen Funktionen der digitalen Plattform wie Bezahlfunktionen, Suchfunktionen oder Datentransformationen. Bei gemeinnützigen digitalen Ökosystemen gilt dies grundsätzlich auch, nur steht keine Gewinnerzielungsabsicht des Betreibers dahinter. Oft wird von außen – gerade weil alle Abläufe so reibungslos und angenehm für alle Beteiligten sind – überhaupt nicht wahrgenommen, wie viel Aufwand dafür investiert werden muss. Die Einfachheit und Eleganz digitaler Ökosystemdienste darf also keinesfalls mit nicht vorhandener Komplexität in der Gestaltung verwechselt werden.

                    So erleichtern digitale Ökosysteme den Zugang zu vielen Angeboten, die nicht mehr einzeln bei vielen Anbietern zusammengesucht werden müssen, sondern einfach über das vermittelnde System gebündelt werden. Der Mehrwert entsteht dabei aus der Kombination der digitalen Plattform mit allen Aspekten der vermittelnden Services und aus der aktiven Beteiligung der Community. Nur wenn beides zusammenkommt und passt, wird das digitale Ökosystem attraktiv.

                    ... sind skalierbar

                    Ein digitales Ökosystem bietet dem Betreiber einen riesigen Gestaltungsspielraum für neue Geschäftsmodelle. Eine Organisation kann sich neu positionieren und ihren Einfluss vergrößern, insbesondere dadurch, dass sie zum zentralen Anlaufpunkt für viele Teilnehmende wird. Die Ökosysteme sind auf hohes Wachstumspotenzial und Skalierung ausgelegt und ermöglichen dies, indem sie die Vermittlungsservices rein digital erbringen. Somit profitiert der Betreiber von einer steigenden Teilnehmerzahl, weil mehr und mehr Netzwerkeffekte einsetzen und er an den Geschäften im Ökosystem mitverdient. Dies bietet wiederum die Möglichkeit, die Plattform und die Services weiter auszubauen und noch attraktiver zu machen.

                    ... sind disruptiv

                    Ein digitales Ökosystem steht nicht für sich allein und entsteht auch keineswegs aus dem Nichts, sondern bettet sich in eine Landschaft aus Akteuren und deren Beziehungen untereinander ein. Ein etabliertes Netzwerk aus Partnern und Wertschöpfungsketten in einer Branche nennen wir Domänen-Ökosystem. Es ist zu beobachten, dass immer wieder neue digitale Ökosysteme entstehen, die mit ihren jeweiligen Services unterschiedliche Bedarfe ansprechen und bei Erfolg die vorherigen Geschäftsbeziehungen im Domänen-Ökosystem massiv verändern. Durch das Entstehen eines neuen digitalen Ökosystems und die Teilnahme von Akteuren verändern sich die Verhältnisse und Positionen innerhalb des Domänen-Ökosystems (Trapp 2020).

                    Gleichzeitig kann es mehrere, möglicherweise konkurrierende oder sich ergänzende, digitale Ökosysteme in einem Domänen-Ökosystem geben. Dabei kann ein Akteur sich auch in verschiedenen digitalen Ökosystemen bewegen, gegebenenfalls in jeweils unterschiedlichen Rollen. So gibt es in der Mobilitätsbranche beispielsweise digitale Ökosysteme wie Uber oder Lyft für den Individualtransport im Pkw. Gleichzeitig hat Flixbus als digitales Ökosystem den Markt für Fernbusreisen verändert und harmonisiert. Darüber hinaus gibt es viele weitere digitale Ökosysteme rund um Mobilität, etwa die Vermittlung von Telematikdaten aus Fahrzeugen unterschiedlichster Hersteller.

                    ... sind erst auf lange Sicht lukrativ

                    Ein digitales Ökosystem kann nicht von heute auf morgen erschaffen werden. Es reicht auch nicht, einfach die digitale Plattform als Softwaresystem zu entwickeln. Vielmehr ist es notwendig, das digitale Ökosystem ganzheitlich zu gestalten und abgestimmt aufeinander sowohl die Plattform zu bauen als auch Teilnehmende für das Ökosystem zu gewinnen und darin zu anhaltender Aktivität zu bewegen.

                    Dies ist typischerweise ein Prozess über etliche Jahre, der anfangs meist relativ langsames Wachstum mit sich bringt und erst nach einiger Zeit bei dann einsetzenden Netzwerkeffekten an Fahrt aufnimmt. Rückblickend sind die digitalen Ökosysteme wie von Amazon oder Airbnb zwar nicht besonders alt – trotzdem dauert es meist rund zehn bis fünfzehn Jahre, bis eine eindrucksvolle Größe erreicht ist, die es ermöglicht, dass der Betrieb der Plattform und des Ökosystems sich selbst trägt. Da der Aufbau meist mit hohen Investitionen in das Wachstum einhergeht und erst recht spät selbsttragend wird, sind ein langer Atem und Investitionsbereitschaft notwendig. Die Erwartung, nach 18 Monaten einen positiven ROI zu erreichen, kann mit digitalen Ökosystemen nicht erfüllt werden.

                    ... sind vielfältig

                    Digitale Ökosysteme haben im Kern zwar das Grundprinzip der Vermittlung gemeinsam, können aber trotzdem sehr unterschiedlich sein: Sie können sich an unterschiedliche Konstellationen von Anbietern und Konsumenten wenden und sich auf verschiedenste Assets fokussieren, von Übernachtungsmöglichkeiten über Fahrzeugdaten bis hin zu Kontaktanbahnungen. Sie können das Geschäftsmodell sehr unterschiedlich gestalten und von non-profit bis maximal profitorientiert aufgestellt sein. Manche Ökosysteme fokussieren sich auf die Vermittlung zwischen Unternehmen (B2B), andere vermitteln ausschließlich zwischen Privatpersonen (C2C), und wieder andere arbeiten mit jeglicher Kombination dazwischen. Und natürlich können auch noch staatliche Stellen einbezogen werden.

                    Der Gestaltung digitaler Ökosysteme sind also wenig Grenzen gesetzt, solange sie es schaffen, attraktiv für Teilnehmende zu bleiben und genügend finanzielle Mittel aufzubringen, um die Anlauf- und Wachstumsphase zu stemmen. Deshalb gibt es auch noch viel Raum für weitere digitale Ökosysteme.

                    ... sind mächtig

                    Trotz aller möglichen Vorteile können digitale Ökosysteme je nach Betrachtungswinkel auch Risiken mit sich bringen. Diese Risiken hängen hauptsächlich damit zusammen, dass bei erfolgreichen digitalen Ökosystemen sich selbst verstärkende Netzwerkeffekte eintreten, die ein digitales Ökosystem umso attraktiver machen, je mehr Teilnehmer es gewonnen hat. Das führt einerseits zu einer Machtkonzentration beim Betreiber dieses Ökosystems und andererseits dazu, dass üblicherweise die Anzahl erfolgreich konkurrierender Ökosysteme sehr beschränkt ist (meist ein bis drei direkte Konkurrenten). Das wiederum bewirkt eine Zentralisierung der Gewinne beim Vermittler und kann kleine lokale Anbieter in starke Abhängigkeit führen.

                    Literatur

                    Choudary S (2017). Die Plattform-Revolution im E-Commerce: Von Airbnb, Uber, PayPal und Co. lernen: Wie neue Plattform-Geschäftsmodelle die Wirtschaft verändern.

                    Trapp M (2020). Digitale Ökosysteme und Plattformökonomie: Was ist das und was sind die Chancen? https://www.informatik-aktuell.de/management-und-recht/digitalisierung/digitale-oekosysteme-und-plattformoekonomie.html

                    Autoren

                    Dr. Matthias Naab und Dr. Marcus Trapp sind Co-Founder von Full Flamingo. Sie helfen Unternehmen pragmatisch, die wichtigen Entscheidungen in der digitalen Transformation abzusichern. Sie waren bis 2022 am Fraunhofer IESE als Führungskräfte tätig und haben das Thema „Digitale Ökosysteme und Plattformökonomie“ mit aufgebaut und verantwortet.

                     

                     

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