Der Kernservice der hier skizzierten nationalen Gesundheitsplattform besteht darin, personalisierte Informationspfade bereitzustellen, die dem sich wandelnden Informationsbedarf folgen und den Umgang mit Gesundheitsinformationen erheblich erleichtern könnten. Um unsere Idee zu illustrieren, haben wir ein prototypisches Design entwickelt, das zeigt, wie die nationale Gesundheitsplattform einmal aussehen könnte.
Patientinnen und Patienten nutzen immer häufiger das Internet, um sich jenseits des traditionellen Gesundheitssystems zu informieren. Dabei greifen sie bislang vor allem auf die großen Suchmaschinen zurück. Je nach Begriff zeigen Google & Co. Hunderttausende oder mehr Ergebnisse und es liegt in der Verantwortung der Informationssuchenden, in dieser Flut von Treffern die richtigen auszuwählen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, werden sie in diesem Auswahlprozess nicht nur von objektiven Kriterien geleitet, sondern vor allem von intransparenten algorithmischen Systemen und der eigenen Gefühlswelt.
Die Logik unserer Produktvision ist eine andere: Patientinnen und Patienten entdecken Informationen, statt danach zu suchen. Das sogenannte Pull-Prinzip der Suchmaschinen weicht dem Push-Prinzip der Messengerdienste und relevante Informationen werden zum passenden Zeitpunkt angeboten. Die Information und Aufklärung im Gesundheitswesen sind kein punktuelles Ereignis mehr, sondern folgen einem strukturierten Prozess und berücksichtigen individuelle Präferenzen sowie Kontextbedingungen der Patientinnen und Patienten (vgl. Informationsvermittlung als Prozess begreifen).
Vertrauen als Ausgangspunkt
Anders als die Suche über eine Suchmaschine beginnt der Informationspfad nicht jenseits des Versorgungssystems, sondern in den Sprech- und Behandlungszimmern und überall dort, wo Patientinnen und Patienten personale Unterstützung erfahren. Denn möglicherweise entsteht das Vertrauen in die Plattform gerade nicht online, sondern wo Menschen sich von Angesicht zu Angesicht begegnen. Daher sieht unser Konzept vor, dass die Angehörigen der Gesundheitsberufe einen Informationspfad per SMS-Link oder auch über die elektronische Patientenakte „verordnen“ bzw. empfehlen können.
Persönlicher Informationsfeed
Bei der Nutzerauthentifizierung sieht unser Konzept vor, die digitale Gesundheits-ID zu verwenden, die die Krankenkassen ihren Versicherten zur Verfügung stellen. Auf diese Weise werden aufwändige Registrierungsprozesse und unnötige Zugangsschwellen vermieden. Nach erfolgtem Login auf der Plattform öffnet sich eine Benutzeroberfläche, die an die großen sozialen Netzwerke erinnert. Das hat den Vorteil, dass Nutzerinnen und Nutzer sich schnell und unkompliziert zurechtfinden.
Unseren Prototyp haben wir LIV getauft. Das Akronym steht für „leicht“, „individuell“ und „vertrauenswürdig“. Wir haben eine Variante für mobile Endgeräte und eine Desktop-Variante entworfen. Perspektivisch sind auch eine akustische Schnittstelle und eine Sprachsteuerung des Informationssystems denkbar.
Wie bei Facebook, LinkedIn und vielen anderen sozialen Netzwerken steht im Mittelpunkt der Oberfläche ein sogenannter „Feed“ mit kachelähnlichen Posts, der sich im Zeitverlauf mit Informationen füllt. Ein großer Unterschied zu den sozialen Netzwerken: Es gehen deutlich weniger Informationen ein, denn Ziel der Plattform ist, die Informationslast zu reduzieren und gleichzeitig die Qualität der Beiträge zu erhöhen. Die Inhalte werden daher in hohem Maße personalisiert und in Abhängigkeit von verfügbaren Kontextinformationen eingespielt.
Wenn beispielsweise ein neues Medikament verordnet wurde, wird diese Kontextinformation bei vorliegender Nutzerfreigabe zum Beispiel über die elektronische Patientenakte an die Plattform weitergeleitet. Der Informationspfad zeigt dann in Echtzeit und vollautomatisch die passende Information zu dem Arzneimittel an. Kontextinformationen können aber auch aus vielen anderen Quellen, etwa von der Smartwatch, einem Sprachsystem oder über mobile Sensorik, in das Informationssystem einfließen und Anhaltspunkte für den situativen Informationsbedarf liefern.
Integrierte Patienteninformation
Die Informationspfade beziehen sich immer auf eine Erkrankung, werden also indikationsspezifisch angelegt. Der individuelle Zuschnitt des Informationsangebots ermöglicht grundsätzlich auch, unterschiedliche Indikationen zusammenzuführen, um ein integriertes und homogenes Angebot für Menschen mit mehreren Erkrankungen unterbreiten zu können.
In unserer Produktvision haben wir einen Verlauf am Beispiel der Diagnose „Kniearthrose“ umgesetzt: Die fiktive Nutzerin Katharina Funke erhält zunächst eine Verdachtsdiagnose. Das ist der Beginn eines Weges durch unterschiedliche Instanzen des Gesundheitssystems von der fachärztlichen Diagnostik über die Entscheidung für eine Operation im Krankenhaus sowie die medizinische Rehabilitation bis hin zur beruflichen Wiedereingliederung: Der Informationspfad startet zunächst mit Basisinformationen zur Erkrankung, gefolgt von Informationen zum Versorgungssystem, zu Behandlungsalternativen und sozialrechtlichen Fragestellungen sowie Informationen zur Rehabilitation.
Präventionspfade
Das Prinzip der Informationspfade wird in unserer Produktvision am Beispiel der Erkrankung „Kniearthrose“ veranschaulicht. Das Grundprinzip der prozesshaften Informationsvermittlung ließe sich aber problemlos auch auf den Bereich der Prävention übertragen und sogar zielgruppenspezifisch und kultursensibel ausrichten. Auf diese Weise könnten gesunde Verhaltensweisen schrittweise eingeübt und verstärkt werden. Insbesondere vulnerable Gruppen ließen sich ohne Streuverluste zielgenau erreichen.
Für die Gestaltung des individuellen Angebots greift das System auf die Informationen und Services einer Vielzahl zertifizierter Anbieter zurück und eröffnet den Nutzerinnen und Nutzern auf diese Weise eine breite Auswahl passender Angebote. Insofern ist es wahrscheinlich, dass zu einem Informationsanlass mehrere Angebote in Frage kommen. In einem solchen Fall wird das Angebot angezeigt, das die beste Bewertung von der Nutzercommunity erhalten hat. Über eine Schubladenfunktion lassen sich die übrigen Angebote einsehen und auswählen.
Neues Wissen anwenden
Unter den Informationen bietet der Pfad immer auch passende digitale Services an: Wer Informationen zu einem neuen Arzneimittel erhält, kann im nächsten Schritt das digitale Rezept einlösen. Nutzerinnen und Nutzern, die Informationen zu unterschiedlichen Behandlungsoptionen erhalten, wird anschließend ein Zweitmeinungsservice angeboten. Und den Informationen zu gesunder Ernährung folgen digitale Anwendungen mit Kochrezepten und Ernährungsplänen. Diese Verknüpfung von Informationen und Services hilft, neu erworbenes Wissen praktisch umzusetzen oder in Entscheidungen einfließen zu lassen.
Verknüpfung von Informationen und relevanten Services
Kein Informationspfad gleicht dem anderen: Die Inhalte folgen dynamisch dem individuellen Bedarf und berücksichtigen neben medizinischen Themen auch rechtliche und psychosoziale Fragestellungen. Das System bietet zudem Informationen an, nach denen Nutzerinnen und Nutzer möglicherweise gar nicht gesucht hätten. So kann beispielsweise noch vor Eintreten des Anspruchs auf Krankengeld proaktiv über die damit verbundenen Rechte und Pflichten informiert werden.
Die Benutzeroberfläche könnte auch ganz anders aussehen und auch der Kernservice könnte ein anderer sein. Die Produktvision illustriert aber, dass eine nationale Gesundheitsplattform etliche Mehrwerte schaffen könnte, ohne selbst redaktionelle Inhalte zu erstellen. Sie zeigt, dass es möglich wäre, gute Informationen zu bündeln sowie Patientinnen und Patienten im Umgang mit Informationen zu entlasten. Die Qualitätsprüfung der Anbieterseite, die Umkehr des Suchmaschinenprinzips, die Personalisierung von Informationen und die prozessorientierte Vermittlung – all das lässt ein neues Format entstehen, das die Informationsverarbeitung erleichtert, informierte Entscheidungen unterstützt und Vertrauen in digitale Lösungen möglich macht.
Literatur
Bol N, Smit ES, Lustria MLA (2020): Tailored health communication: Opportunities and challenges in the digital era. Digital Health, 6, 1-3. (Quelle)
Kynoch K, Ramis MA, Crowe L, Cabilan CJ, McArdle A. (2019): Information needs and information seeking behaviors of patients and families in acute healthcare settings: a scoping review. JBI Database System Rev Implement Rep, 17(6): 1130-1153. (Quelle)