Um sich erfolgreich auf dem Markt behaupten zu können, sollten Betreiber digitaler Plattformen die Interessen aller am Ökosystem beteiligten Akteure im Auge behalten. Nur wenn es gelingt, für alle Seiten Nutzen zu stiften und Vorteile zu erzeugen, können sich Netzwerk- und Skalierungseffekte entfalten. Das gilt auch für eine nationale Gesundheitsplattform, die keinen Gewinn zu erzielen beabsichtigt.
Erfolgreiche Systeme zeichnen sich durch eine optimal gestaltete User Journey bzw. Customer Journey aus. Das bedeutet, dass jeder Kontakt, den Nutzerinnen und Nutzer mit dem System haben, explizit so gestaltet wird, dass deren Bedürfnisse am jeweiligen Kontaktpunkt möglichst optimal erfüllt werden. Erfolgreiche Anbieter gehen somit bei der Entwicklung eines neuen Systems oder Services in erster Linie nutzer- bzw. kundenorientiert vor.
Bei der Betrachtung neuer, digitaler Geschäftsmodelle, die nach plattformökonomischen Prinzipien funktionieren, fällt es nicht immer leicht, „den Kunden“ im digitalen Ökosystem zu bestimmen. Digitale Ökosysteme wie etwa Airbnb, Uber oder Schüttflix bieten virtuelle Marktplätze, auf denen sogenannte „Assets“ (Übernachtungen, Transporte, Schüttgut) von Ökosystem-Betreibern vermittelt bzw. gebrokert werden. Es handelt sich hier somit in der Regel um mehrseitige Marktplätze, meistens mit zwei, selten mit drei oder noch mehr Seiten.
Es gibt immer Ökosystem-Partner, die Produkte und Leistungen (Assets) im digitalen Ökosystem anbieten (Provider), und es gibt andere, die Assets im digitalen Ökosystem konsumieren (Consumer). So vermittelt Airbnb (Broker) Übernachtungsmöglichkeiten (Assets) von privaten Gastgeberinnen und Gastgebern (Provider) an Reisende (Consumer), und Uber (Broker) vermittelt Transporte (Assets) von privaten Fahrerinnen und Fahrern (Provider) an Fahrgäste (Consumer). Nach dem gleichen Prinzip soll auch die nationale Gesundheitsplattform digitale Informationen und Dienste von Anbietern an Patientinnen und Patienten vermitteln.
Für Gestalter von Ökosystemen hat diese Situation der mehrseitigen Marktplätze und der Diversität der Beteiligten allerdings weitreichende Auswirkungen: Es besteht die Gefahr der reflexartigen Fokussierung auf die Consumer-Journey. Ökosystem-Gestalter sollten den Providern jedoch ebenso viel Aufmerksamkeit schenken und auch deren Bedürfnisse stets berücksichtigen. Denn durch eine große Zahl von Providern wird ein digitales Ökosystem für Consumer erst interessant – umgekehrt steigt die Attraktivität des Ökosystems für Provider mit steigender Zahl der Consumer.
Alle Interessen im Blick
Im Zentrum der hier vorgestellten Vision einer nationalen Gesundheitsplattform stehen die Patientinnen und Patienten, und folglich ist der patientenseitige Nutzen ebenso zentral: Über die Selektion und Bündelung von Informations- und Serviceangeboten soll die nationale Gesundheitsplattform die Gesundheitskompetenz fördern, den Umgang mit Informationen erleichtern sowie Patientinnen und Patienten dabei unterstützen, sich aktiv in das Behandlungsgeschehen einzubringen.
Dieser Nutzen ist jedoch nur zu realisieren, wenn sich auch die Anbieter gesundheitsrelevanter Informationen und digitaler Dienstleistungen aktiv in das Ökosystem einbringen. Ökosystem-Betreiber sollten daher eine möglichst optimale und nutzenbringende Provider-Journey gestalten, um alle Partner gleichermaßen anzusprechen und Anreize für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Ökosystems zu schaffen.
Freiwilligkeit statt Zwang
Vorteile für alle Beteiligten sind deshalb so wichtig, weil die Teilnahme an einem Ökosystem freiwillig ist und niemand dazu gezwungen werden kann. Selbst wenn es in Einzelfällen möglich wäre, eine Teilnahme beispielsweise von staatlicher Seite zu erzwingen, zeigt die langjährige Erfahrung, dass dieser Weg in der Regel nicht zielführend ist. Die zur Teilnahme Gezwungenen finden dann oft Mittel und Wege, um Abläufe zu verzögern oder auf andere Weise zu behindern. Ziehen jedoch alle Beteiligten einen Vorteil aus ihrer Teilnahme, führt dies meistens auch zu guten Ergebnissen.
Die Vorteile müssen sich nicht zwangsläufig monetär abbilden. Ein Zugang zu einem größeren Markt, erhöhte Sichtbarkeit des eigenen Angebots oder der Zugriff auf Daten oder Analysen können manchmal sogar mehr wert für die Beteiligten sein als kurzfristige finanzielle Gewinne. Im Optimalfall führen Vorteile für andere Beteiligte sogar zu weiteren Vorteilen für Patientinnen und Patienten. So können zum Beispiel Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen signifikant vom Zugriff auf Kontextinformationen profitieren und so ihre Leistungen noch besser auf die Bedürfnisse der Zielgruppen zuschneiden.
Ganzheitliche Gestaltung digitaler Ökosysteme
Neue digitale Ökosysteme bieten in der Regel keine Leistung an, die es so ähnlich nicht schon gibt oder gegeben hat. Doch sie bieten über ihren digitalen Ökosystem-Service eine Leistung an, die in vielerlei Hinsicht so viel besser ist, dass oft eine ganze Branche damit grundlegend verändert wird. Diese Verbesserung wird meist durch die geschickte Ausnutzung digitaler Möglichkeiten erreicht, wie sie in der jeweiligen Branche zuvor nicht genutzt wurden.
Auch vor dem Launch von Airbnb wurden schon Übernachtungsmöglichkeiten digital vermittelt, und vor dem Markteintritt von Uber wurden auch bereits Personentransporte vermittelt. Aber beide bieten ihren Teilnehmerinnen und Teilnehmern so viele Vorteile und Mehrwerte, dass sie ihren Markt signifikant prägen und verändern konnten.
Die Kunst bei der Etablierung eines digitalen Ökosystems besteht in einer ganzheitlichen Gestaltung, die den Interessen aller Beteiligten gerecht wird. Da man meistens in etablierte Märkte der jeweiligen Geschäftsdomänen eintritt, ist genau zu überlegen, welche Vorteile sich für alle Beteiligten schaffen lassen, sodass diese hinreichend motiviert sind, am Ökosystem teilzunehmen. Bei der Gestaltung einer nationalen Gesundheitsplattform erscheint dies angesichts des teilregulierten Gesundheitsmarktes mit vielen starken und etablierten Akteuren besonders wichtig.
Das neue Ökosystem würde Strukturen und Prozesse im Gesundheitswesen verändern. Klar ist, dass jede Veränderung nicht nur Vorteile für die Beteiligten bringt. Allein diesen Umstand nehmen manche Markbeteiligten schon als Nachteil wahr. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die Trägerorganisation ihre Machtstellung nutzt, um von den Vorteilen der Plattform allein zu profitieren. Dies würde die Motivation aller anderen Akteure schwächen und so den Erfolg der Plattform gefährden.
Ökosystem-Gestaltung in der Praxis
Die Entwicklung der hier vorgestellten Vision eines digitalen Ökosystems war in einen methodischen Rahmen eingebettet, der eine ganzheitliche Gestaltung gewährleistet und die Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten im Auge behält. Um eine Übersicht über den Status quo zu erhalten, wurden zunächst die für das Ökosystem relevanten Akteure zusammengetragen und priorisiert. Anschließend wurden anonyme Interviews mit Repräsentantinnen und Repräsentanten dieser Akteure geführt, Veröffentlichungen und Analysen gesichtet und Experteneinschätzungen eingeholt, um die Bedürfnis- und Problemlagen der einzelnen Akteure besser kennenzulernen.
Um sicherzustellen, dass das hier skizzierte Ökosystem genügend Nutzen für mögliche Beteiligte erzeugt, um diese zu einer aktiven Teilnahme zu motivieren, wurde eine Motivation Matrix erstellt (Nass, Trapp, Villela 2018). Hierfür wurde zunächst untersucht, welche Vorteile jeder einzelne Akteur von der Einführung der nationalen Gesundheitsplattform hätte, was er beitragen bzw. welche Rolle er im Ökosystem übernehmen könnte. Neben Vorteilen und Anreizen wurden auch mögliche Nachteile diskutiert, die einzelne Akteure durch das Ökosystem mit seiner Plattform erfahren oder zumindest befürchten könnten.
Wie erwähnt, geht es bei der Nutzenanalyse nicht nur um monetäre Vorteile, denn Nutzen kann vielfältig ausgeprägt sein. Mithilfe der Motivation Matrix ließ sich im Verlauf der Konzeptentwicklung überprüfen, inwiefern die antizipierten Erwartungen der Akteure bezüglich einer Teilnahme am Ökosystem erfüllt werden können. Wurden Erwartungen wichtiger Akteure nicht erfüllt, wurde das Ökosystem in einem iterativen Prozess entsprechend umgestaltet. Im Ergebnis ist ein Nutzenmodell für die hier entworfene nationale Gesundheitsplattform entstanden, das vor allem eins deutlich macht: Auch in dem von Instanzenvielfalt, Diversität und Partikularinteressen geprägten Gesundheitssystem lässt sich eine Vision schaffen, die für alle Beteiligten einen Mehrwert stiftet, spürbar Nutzen erzeugt und Wohlfahrtseffekte freisetzt.
Tangible Ecosystem Design (TED) Methode
Digitale Ökosysteme sind ungleich komplexer als Softwaresysteme, die unter der alleinigen Kontrolle eines einzelnen Unternehmens stehen. Die technologischen (Technology), geschäftlichen (Business) und rechtlichen (Legal) Auswirkungen sind erheblich schwerer zu verstehen, wenn Produkte und Dienstleistungen unternehmens- und branchenübergreifend gestaltet werden sollen.
Eine große Anzahl und verschiedenste Rollentypen führen zu unübersichtlichen Beziehungen, und die Auswirkungen selbst kleinster Veränderungen auf das gesamte Ökosystem sind schwierig einzuschätzen. Das macht es gerade in der Gestaltungsphase sehr herausfordernd, den Überblick (das „Big Picture“) über das Ökosystem zu erlangen. Das Big Picture ist jedoch das wichtigste Kommunikationsmittel, um mit möglichen Beteiligten über unterschiedlichste Aspekte (Business, Technology, Legal) sprechen zu können und schnell zu einem gemeinsamen Verständnis zu kommen.
Die Methode „Tangible Ecosystem Design“ nimmt sich genau dieser Herausforderungen an. Die Methode fördert die Zusammenarbeit bei der Definition, Gestaltung und Analyse eines digitalen Ökosystems – und das mithilfe von Playmobil®-Spielzeug, wodurch die Konzeption für die Teilnehmenden konkretisiert wird. Diese können in Workshops mit Playmobil und geeigneten Templates ein digitales Ökosystem modellieren und es damit im wahrsten Sinne des Wortes „greifbar“ machen.
Literatur
Nass, C, Trapp, M, Villela, K (2018). Tangible design for software ecosystem with Playmobil®. NordiCHI ’18: Proceedings of the 10th Nordic Conference on Human-Computer Interaction. September 2018. 856–861.
Koch, M, Krohmer, D, Naab, M, Rost, D, Trapp, M (2022). A matter of definition: Criteria for digital ecosystems. Digital Business 2, 100027.
Autoren
Dr. Matthias Naab und Dr. Marcus Trapp sind Co-Founder von Full Flamingo. Sie helfen Unternehmen pragmatisch, die wichtigen Entscheidungen in der digitalen Transformation abzusichern. Sie waren bis 2022 am Fraunhofer IESE als Führungskräfte tätig und haben das Thema „Digitale Ökosysteme und Plattformökonomie“ mit aufgebaut und verantwortet.