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Gesundheitskompetenz und Infodemie

Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler
Prof. Dr. Doris Schaeffer

Gesunde Entscheidungen erfordern gute Informationen. Gesundheitskompetenz bildet die Summe der Fähigkeiten, die wir benötigen, um uns diese Informationen im Alltag zu erschließen. In einem Zeitalter, in dem Informationen im Überfluss vorhanden sind und digitale Plattformen einen nahezu uneingeschränkten Zugang zu Wissen bieten, haben viele Menschen jedoch große Schwierigkeiten, sich in der Informationsflut zurechtzufinden. In Verbindung mit dem Phänomen der sich im Netz immer schneller ausbreitenden Fehl- und Falschinformationen entsteht ein gefährliches Gemisch, das die Gesundheitssysteme schon heute vor große Herausforderungen stellt.

Der Begriff der Gesundheitskompetenz (engl. Health Literacy) fasst ein ganzes Bündel unterschiedlicher Fähigkeiten zusammen. Es reicht von der Suche nach passenden Informationen über das Verstehen, die Beurteilung bis zur Umsetzung neuen Wissens auf der Verhaltensebene. Der Begriff bezeichnet nicht nur das Verständnis gesundheitsrelevanter Begriffe und Konzepte, sondern schließt auch Problemlösungs- und Interaktionskompetenzen sowie den Umgang mit Informationstechnologien ein. Dazu gehört auch der kompetente Umgang mit persönlichen Daten sowie die Fähigkeit, Informationen aus digitalen Quellen zu prüfen, Desinformation zu erkennen und entsprechend einzuordnen.

“Gesundheitskompetenz „umfasst das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten von Menschen, gesundheitsrelevante Informationen in unterschiedlicher Form zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag … Entscheidungen treffen zu können.“

Kristine Sørensen (2012)

Wie es um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung steht, zeigt unter anderem der “European Health Literacy Population Survey“ (HLS19) aus dem Jahr 2021, an dem 17 europäische Länder beteiligt waren. Demnach berichtete fast die Hälfte der Befragten von erheblichen Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen. Dabei fiel die Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit und Qualität von Informationen am schwersten. Zudem hatten rund 40 Prozent der Befragten über alle Länder hinweg eigenen Angaben zufolge Schwierigkeiten, aufgrund von Informationen aus den Medien zu entscheiden, wie sie sich vor Krankheiten schützen können. In Deutschland beträgt dieser Anteil sogar rund 61 Prozent, und auch die Gesundheitskompetenz fällt schlechter aus: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung – konkret 58,8 Prozent – weisen hierzulande eine geringe Gesundheitskompetenz auf.

Schwerwiegende Folgen

Probleme im Umgang mit Gesundheitsinformationen haben nicht nur Folgen für die individuelle Gesundheit, sondern wirken sich auf das Gesundheitssystem insgesamt aus. So geht eine geringe Gesundheitskompetenz häufig mit ungesundem Verhalten und einer deutlich intensiveren Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems – insbesondere der Krankenhaus- und Notfallversorgung, aber auch Arztbesuchen – einher. Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz haben Schwierigkeiten, Packungsbeilagen von Arzneimitteln zu verstehen, Informationen zu einer Erkrankung richtig einzuschätzen, Behandlungsoptionen abzuwägen oder die richtige Anlaufstelle im Gesundheitssystem auszumachen. Sie nehmen präventive Angebote seltener in Anspruch und weisen höhere Morbiditätsraten und sogar vorzeitige Sterbefälle auf.

Von der Infodemie zur Infokalypse

Auch, wenn digitale Technologien den Umgang mit Informationen erheblich erleichtern können, erhält die empirische Befundlage zur Gesundheitskompetenz unter dem Einfluss der digitalen Transformation eine neue Brisanz: Die Reiz- und Sinnesüberflutung durch Informationen ist im digitalen Zeitalter selbst zu einem Gesundheitsrisiko geworden, und die Verbreitung irreführender und auch widersprüchlicher Informationen sorgt zunehmend für Verunsicherung. Im Netz treffen Menschen immer häufiger auf Bots und täuschend echte Videomanipulationen, die die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen lassen. Der Technologieforscher und IT-Berater Aviv Ovadya zeichnet in diesem Zusammenhang das dystopische Bild einer „Infokalypse“, in der moderne Technologien Wahrheit und Vertrauen vollständig erodieren lassen.

Die Echokammern der sozialen Netzwerke lassen schon heute abgeschottete Öffentlichkeiten entstehen, in denen sich falsche und irreführende Informationen mit hoher Geschwindigkeit „viral“ verbreiten können. Um dieses Phänomen zu beschreiben, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Begriff der „Infodemie“ geprägt. Er bezieht sich nicht nur auf die rasche Ausbreitung, sondern auch auf die gesundheitlichen Risiken, die mit Desinformation einhergehen.

“Es ist unverkennbar, dass digitale Gesundheit die Gegenwart und Zukunft unserer Gesundheitssysteme darstellt, daher müssen wir sicherstellen, dass es keine Gewinner oder Verlierer gibt, sondern dass jeder profitiert und niemand zurückgelassen wird.”

Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa (2023)

Eine internationale Vergleichsstudie der WHO für die Region Europa aus dem Jahr 2023 offenbart, dass viele Länder zwar große Fortschritte im Aufbau der technischen Infrastruktur verzeichnen, aber nur die Hälfte von ihnen über Konzepte zur Verbesserung der digitalen Gesundheitskompetenz verfügt. Hier droht das Risiko ungleicher Gesundheitschancen infolge einer sich verschärfenden digitalen Spaltung der Gesellschaft.

Resilienz gegen Desinformation

Verfügen Menschen über eine hohe Gesundheitskompetenz, sind sie besser in der Lage, falsche oder irreführende Informationen zu erkennen und entsprechend einzuordnen. Gesundheitskompetenz kann folglich die Resilienz und Widerstandsfähigkeit gegen Desinformation stärken und so gesundheitliche Risiken in der Bevölkerung verringern. Sie ist ein wichtiger Schlüsselfaktor für eine gelingende digitale Transformation des Gesundheitswesens. Deshalb ist es an der Zeit, zu handeln und Maßnahmen zur Förderung der Gesundheitskompetenz zu ergreifen. Dabei geht es keineswegs nur darum, die individuellen Kompetenzen und Ressourcen der Bevölkerung zu fördern. Um die Situation für Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz zu verbessern, bedarf es auch eines nutzerfreundlichen Gesundheitssystems, das Anforderungen reduziert und den Umgang mit Informationen erleichtert.

Es bedarf nutzerfreundlicher und nutzenbringender digitaler Anwendungen und Informationsangebote, die die individuellen Lernvoraussetzungen, Bedarfe und Präferenzen der Nutzerinnen und Nutzer berücksichtigen und wirksame Mechanismen zur Qualitätssicherung vorhalten. Schließlich braucht es digitale Orte, an denen sich Patientinnen und Patienten sicher bewegen können, Datenschutz und ein größtmögliches Maß an Datensicherheit gewährleistet wird und an denen sie kuratierte Informationen erhalten, um auf dieser Basis im Behandlungsprozess mitwirken und gesunde Entscheidungen treffen zu können.

Literatur

Kickbusch I, Pelikan J M, Apfel F, Tsouros A D (‎2013)‎. Health literacy: the solid facts. World Health Organization. Regional Office for Europe. https://apps.who.int/iris/handle/10665/326432

Rudd R (2006). The Health Literacy Environment of Hospitals and Health Centers. National Center For the Study of Adult Learning and Literacy. www.hsph.harvard.edu/healthliteracy

Schaeffer D, Vogt D, Quenzel G, Berens E M, Messer M, Hurrelmann K (2017). Health Literacy in Deutschland. In: D. Schaeffer und J M Pelikan (Hrsg.), Health Literacy: Forschungsstand und Perspektiven. Bern.

Schaeffer D, Berens E-M, Gille S, Griese L, Klinger J, de Sombre S, Vogt D, Hurrelmann K (2021). Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland vor und während der Corona Pandemie. Ergebnisse des HLS-GER 2. Bielefeld. Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK), Universität Bielefeld.

Sørensen K, Van den Broucke S, Fullam J, Doyle G, Pelikan J, Slonska Z, Brand H, European Consortium Health Literacy Project (2012). Health literacy and public health: a systematic review and integration of definitions and models. MC Public Health 12, 80. DOI: 10.1186/1471-2458-12-80

The HLS19 Consortium of the WHO Action Network M-POHL (2021). International Report on the Methodology, Results, and Recommendations of the European Health Literacy Population Survey 2019-2021 (HLS19) of M-POHL. Austrian National Public Health Institute. Vienna.

Warzel C (2018). Believable: The Terrifying Future of Fake News. https://www.buzzfeednews.com/article/charliewarzel/the-terrifying-future-of-fake-news

WHO – World Health Organization (2020). Infodemic management: a key component of the COVID-19 global response. Weekly Epidemiological Record 95(16), 145–148.

WHO – World Health Organization (2023). The ongoing journey to commitment and transformation: digital health in the WHO European Region. WHO Regional Office for Europe. Copenhagen.

Autor/Autorin

Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler ist als Co-Director mitverantwortlich für das Gesundheitsprogramm der Bertelsmann Stiftung. Zuvor arbeitete er als geschäftsführender Gesellschafter der Patientenprojekte GmbH, einer auf den Bereich der Patientenkommunikation spezialisierten Organisations- und Unternehmensberatung. Von 2011 bis 2015 war Schmidt-Kaehler Bundesgeschäftsführer der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). Er ist Mitglied im Expertenrat des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz.

Prof. Dr. Doris Schaeffer ist Senior Professorin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, Ko-Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Gesundheitskompetenzforschung (IZGK) und Senior Fellow an der Hertie School of Governance. Sie ist Initiatorin und Mitherausgeberin des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz in Deutschland und Mitglied des 2018 gegründeten EHII Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL). Von 2010 bis 2014 war Schaeffer Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen des Bundesministeriums für Gesundheit.

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    Trusted Health Ecosystems: Unser Projektansatz

    Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler
    Dr. Inga Münch

    Die digitale Transformation durchdringt und gestaltet unser Leben in ungeahnter Weise und mit wachsender Geschwindigkeit. Eben dieses Tempo wie auch die disruptive Schlagkraft der damit verbundenen Veränderungen fordert unserer Gesellschaft große Anpassungsleistungen ab. Digitale Plattformen spielen dabei eine Schlüsselrolle, denn sie stellen die Infrastruktur und die Dienstleistungen bereit, die diesen Wandel vorantreiben.

    Digitale Ökosysteme haben mit ihren Plattformen ganze Wirtschaftssektoren grundlegend verändert. Das gilt für die Art und Weise, wie Menschen miteinander interagieren und kommunizieren ebenso wie für die Vermarktung von Waren und Dienstleistungen oder den Zugang zu Bildungs- und Informationsangeboten. Plattformen beeinflussen die Arbeitswelt, haben die Medienlandschaft auf den Kopf gestellt und die Machtverhältnisse in der Mobilitätsbranche neu geordnet. Warum also sollte es dem Gesundheitswesen anders ergehen?

    Neue Machtverhältnisse

    Global agierende Tech-Unternehmen drängen mit ihren Plattformen auch in den Gesundheitsbereich vor – mit großen Potenzialen für ein modernes, patientenzentriertes und ständig lernendes Gesundheitssystem. Netzwerk- und Skaleneffekte sorgen dabei für beeindruckende Möglichkeiten des Wachstums, bergen jedoch auch Gefahren für unsere solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung. Eines ist sicher: Die digitalen Plattformen werden die Machtverhältnisse in den Gesundheitssystemen fundamental verändern – und es liegt in unserer Verantwortung, ihre innovative und steuernde Kraft im Sinne des Gemeinwohls zu nutzen und zu lenken (vgl. Video: Die Kraft der Plattformökonomie im Gesundheitswesen).

    Plattformstrategien für nationale Gesundheitssysteme

    Für öffentliche und zivilgesellschaftliche Akteure ist es an der Zeit, eigene Plattformen zu etablieren und die digitale Infrastruktur aktiv mitzugestalten, um so wertebasierte Leitplanken für das digitale Gesundheitswesen der Zukunft zu setzen. Nationale Gesundheitssysteme benötigen eigene Plattformstrategien, um sich auf dem neuen Gesundheitsmarkt zu positionieren. Im Projekt „Trusted Health Ecosystems“ zeichnen wir diesen Weg vor und entwickeln ein ganz konkretes Bild einer nationalen Gesundheitsplattform der Zukunft. Damit möchten wir zeigen, welcher Nutzen im konzertierten Zusammenspiel von Staat, Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft entstehen könnte (vgl. Unser Konzept in der Gesamtschau).

    Gesundheitskompetenz fördern

    Im Mittelpunkt unserer Produktidee steht die Vermittlung personalisierter Informationen und Services für Patientinnen und Patienten. Damit greifen wir die Befundlage zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung auf: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung berichtet demzufolge von erheblichen Schwierigkeiten, gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden (vgl. Gesundheitskompetenz: Herausforderung der Zukunft). Ohne diese Grundvoraussetzung ist es Patientinnen und Patienten jedoch kaum möglich, informierte Entscheidungen zu treffen und aktiv am Behandlungsprozess mitzuwirken. Durch die Bündelung und intelligente Vermittlung kuratierter Informationen könnte die Plattform den Umgang mit Informationen spürbar erleichtern – und die Informationsarchitektur im Gesundheitswesen verändern.

    Inspiration

    Die Bertelsmann Stiftung kann und wird diese Plattform nicht selbst umsetzen und betreiben, denn die bloße Bereitstellung einer digitalen Infrastruktur würde hier viel zu kurz greifen. Um ein digitales Ökosystem wachsen zu lassen, das für alle Beteiligten Nutzen stiftet, bedarf es nicht nur einer gesetzlichen Grundlage, sondern vor allem auch der Einsicht und des gemeinsamen Willens aller relevanten Akteure des Gesundheitssystems. Unsere Aufgabe als Stiftung sehen wir deshalb darin, all jene zu inspirieren, die diese Vision gemeinsam verwirklichen könnten.

    Internationaler Kontext

    Digitale Ökosysteme haben die Welt enger vernetzt als jemals zuvor. Ihre Plattformen passen sich zwar an nationale Gegebenheiten an, werden aber meist grenzüberschreitend angeboten. So entstehen Herausforderungen, die sich auf nationaler Ebene oft nicht mehr bewältigen lassen. Internationale Zusammenarbeit und Koordination sind daher entscheidend, um Risiken abzuwehren und die Chancen zu nutzen, die diese Transformation mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund haben wir unsere Vision einer nationalen Gesundheitsplattform von Anfang an in einen internationalen Kontext gesetzt und mit internationalen Organisationen aus Europa und darüber hinaus diskutiert. Das gilt auch und insbesondere für Qualitäts-, Sicherheits- und Interoperabilitätsstandards, die eine solche Plattform betreffen (vgl. InfoCure: Qualität sichtbar machen).

    Projektergebnisse in Echtzeit

    Spätestens seit dem Durchbruch KI-gestützter Sprachmodelle bekommen wir einen ersten Eindruck von der exponentiell wachsenden Geschwindigkeit, in der die digitale Transformation unser Leben prägt und verändert. Angesichts dieser Schnelllebigkeit haben wir uns entschieden, vom bislang üblichen Modell abzuweichen und Arbeitsergebnisse nicht erst am Ende eines Projekts, sondern „in Echtzeit“ zu veröffentlichen. Das hier vorgestellte Konzept wird sich also noch weiterentwickeln. Viele Beiträge und neue Abschnitte werden folgen und das Bild der nationalen Gesundheitsplattform schärfen.

    Autor/Autorin

    Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler ist als Co-Director mitverantwortlich für das Gesundheitsprogramm der Bertelsmann Stiftung. Zuvor arbeitete er als geschäftsführender Gesellschafter der Patientenprojekte GmbH, einer auf den Bereich der Patientenkommunikation spezialisierten Organisations- und Unternehmensberatung. Von 2011 bis 2015 war Schmidt-Kaehler Bundesgeschäftsführer der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). Er ist Mitglied im Expertenrat des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz.

    Dr. Inga Münch verantwortet das Projekt „Trusted Health Ecosystems“ der Bertelsmann Stiftung. Zuletzt hat sie in verschiedenen Projekten an den Schnittstellen Patientenzentrierung und digitale Gesundheit gearbeitet. Sie ist Gesundheitswissenschaftlerin und hat zum Konzept gesundheitskompetenter Organisationen promoviert. Zuvor hat sie in der Forschung an wissenschaftlichen Projekten im Bereich Gesundheitsbildung, Patientenorientierung und Gesundheitssystemforschung gearbeitet.

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