Ein Gesundheitsökosystem, wie es im Projekt „Trusted Health Ecosystems“ angestrebt wird, muss vielfältige Anforderungen erfüllen, wenn es Mehrwert im Gesundheitsbereich stiften will. Internationale Vorbilder zeigen: Ein erfolgreiches Betriebsmodell kombiniert die aktive Einbindung und Orchestrierung teilnehmender Akteure mit gemeinsamen technischen Standards.
Digitale Ökosysteme haben in verschiedenen Industrien traditionelle Geschäftsmodelle verändert und dabei Wert für Kunden und Marktteilnehmer geschaffen. So vernetzen z. B. E-Commerce-Plattformen Anbieter und Kaufinteressenten direkt miteinander und ermöglichen so effizienten Handel. Solche offenen Ökosysteme könnten künftig auch im digitalen Gesundheitswesen eine Rolle spielen. Zu ihren typischen Merkmalen zählen:
Multi-Stakeholder-Netzwerk. Ein offenes Ökosystem vereint eine Vielzahl von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen. Im Gesundheitswesen könnten dies zum Beispiel Patientinnen und Patienten, Leistungserbringer, Kostenträger und Anbieter von Produkten und Services sein.
Co-Creation. Die Bereitstellung von Informationen und Services sowie die kontinuierliche Weiterentwicklung erfolgen nicht nur durch den Plattform-Betreiber, sondern auch durch Drittanbieter bzw. Stakeholder „auf der Plattform“. Auf diesem Prinzip basieren beispielsweise auch die „App Stores“ von Mobiltelefonanbietern, in denen Drittentwickler ihre Anwendungen zum Download anbieten.
Selbstverstärkende Effekte. Der Mehrwert von Ökosystemen ist eng verknüpft mit einer hohen Adoptionsrate: Je mehr Akteure aktiv sind, desto mehr gewinnt das Ökosystem an Attraktivität und zieht so weitere Nutzende an. Bekannt ist dieser Mechanismus von sozialen Netzwerken, die teilweise rapide skalieren, sobald eine „kritische Masse“ an Nutzenden erreicht ist. Auch im digitalen Gesundheitsbereich könnten solche selbstverstärkenden Effekte auftreten: Je mehr Versicherte einen digitalen Service nutzen, desto relevanter wird die Anwendung für Leistungserbringer – und umgekehrt.
Worauf es bei der Ausgestaltung von Gesundheitsökosystemen ankommt: Vier Erfolgsfaktoren für das Betriebsmodell
Ein Kernelement erfolgreicher Ökosysteme ist die aktive Partizipation der Stakeholder. Ein weiteres ist die richtige organisatorische Ausgestaltung, damit das Ökosystem sein Potenzial vollständig entfalten kann. Vier Faktoren spielen dabei eine zentrale Rolle, wie die nachfolgenden Beispiele aus verschiedenen Ländern zeigen.
1. Patientenpfade „end-to-end“
Aus Nutzerperspektive ist die nahtlose Integration von Stakeholdern und Services ein wichtiger Mehrwert von Ökosystemen. Denn so entstehen Patientenpfade „end-to-end“, bei denen verschiedene Services ineinandergreifen und individuell zugeschnitten werden können, z. B. von der Terminbuchung zur (Tele-)Konsultation zur Verschreibung mittels E-Rezept und Medikamentenlieferung. Die Verknüpfung mit grundlegenden „Enabler-Anwendungen“ wie etwa der elektronischen Patientenakte ermöglicht dabei eine nahtlose Versorgung ohne „Systemwechsel“ und mit konsistenten Daten.
Das von finnischen Universitätskliniken entwickelte „Health Village“ umfasst virtuelle Einrichtungen („Hubs“) für verschiedene Versorgungszwecke (z. B. Notfälle, Reha, mentale Gesundheit), die über digitale Pfade („My Path“) je nach Patientendiagnose verknüpft werden. Nach ärztlicher Überweisung können Teilnehmende z. B. via Smartphone digitale Versorgungsleistungen wie Videosprechstunden oder Selbsthilfeprogramme abrufen. Mehr als 400 solcher Versorgungspfade ergänzen mittlerweile die Gesundheitsversorgung vor Ort.
2. Konsequente Nutzerzentrierung
Um eine möglichst hohe Adoptions- und Aktivitätsrate zu erzielen, sollten sich die Angebote des Ökosystems konsequent an den Bedürfnissen der Nutzenden ausrichten. Nutzerzentrierung bedeutet die Einbeziehung der am Ökosystem Beteiligten in die Weiterentwicklung der Services – was auch die Nutzerbindung vertieft.
Über ein „User Panel“ beteiligt das dänische Gesundheitsportal „Sundhed.dk“ Patientinnen und Patienten aktiv an der Weiterentwicklung von E-Health-Anwendungen. So wird z. B. über Fokusgruppen, begleitete Nutzertests, Interviews oder Fragebögen gezielt Nutzerfeedback erhoben. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse (z. B. Feedback zu existierenden Lösungen, Wünsche zu neuen Funktionalitäten) fließen in die Weiterentwicklung des Portals und einzelner E-Health-Lösungen ein – was zu einer Verbesserung der Nutzererfahrung und somit letztendlich zu einem höheren Nutzen für Patientinnen und Patienten führen soll.
3. Governance zur Einbindung der Stakeholder
Damit die Angebote im Ökosystem sinnvoll ineinandergreifen können, braucht es geeignete Governance-Mechanismen. Dem Betreiber kommt dabei die Rolle des Orchestrators zu, die Stakeholder zusammenzubringen und die Rahmenbedingungen für ein bedarfs- und lösungsorientiertes Zusammenspiel zu schaffen. Eine klare Governance regelt dabei die Zuständigkeiten der am Ökosystem beteiligten Akteure.
Ursprünglich von Krankenkassen und Gesundheitsanbietern gegründet und entwickelt, sind inzwischen auch Ärztenetzwerke und andere Partner Teil von „Well“. Die Einbindung der verschiedenen Akteure wird von der Well AG orchestriert.
4. Technische Interoperabilität
Erfolgreiche Ökosysteme ermöglichen den reibungslosen Informationsaustausch zwischen Stakeholdern durch einheitliche Schnittstellen und Standards. Festgelegt werden sie typischerweise vom Betreiber des Ökosystems unter Berücksichtigung der internationalen Regelungen zur Interoperabilität. Der Standard „Fast Healthcare Interoperability Resource“ (FHIR) schafft im Gesundheitsbereich z. B. eine einheitliche Grundlage für nationalen und grenzüberschreitenden Datenaustausch.
Israel setzt bereits auf FHIR als Standard im Gesundheitsbereich. Mit einem Mix aus Anreizsystemen und regulatorischen Vorgaben will Israel Gesundheitsdaten mit diesem Standard besser nutzbar machen. Die israelischen Health Maintenance Organisations (die gleichzeitig Versicherer, Leistungserbringer und Krankenhausbetreiber sind), Forschungseinrichtungen, Start-ups und weitere Gesundheitsanbieter – sie alle sollen vom besseren Gesundheitsdatenaustausch profitieren.
Die Zukunft offener Ökosysteme im Gesundheitsbereich
Ein offenes Gesundheitsökosystem hätte das Potenzial, viele Stakeholder im deutschen Gesundheitswesen mit Bürgerinnen und Bürgern zu verknüpfen. Dabei könnte auf bestehenden Strukturen aufgesetzt werden: So existiert mit der TI bereits eine nationale Telematikinfrastruktur. Elektronische Patientenakte und E-Rezept wiederum könnten das „Fundament“ für den Austausch von Gesundheitsdaten in einem offenen Gesundheitsökosystem sein.
Die beschriebenen Erfolgsfaktoren zeigen, dass die Anforderungen, erfolgreiche Ökosysteme aufzubauen, vielfältig sind: Es braucht nutzerzentrierte Konzepte und effektive Steuerungsstrukturen, um verschiedene Akteure zu orchestrieren und technische Standards zu etablieren.
Um dies zu erreichen, kann z. B. eine Organisation etabliert werden, welche die strategischen Linien für das Gesundheitsökosystem vorgibt und das Ökosystem orchestriert – mit der Möglichkeit einer direkten Partizipation durch die Stakeholder und Drittanbieter im Ökosystem.
Autor
Tobias Silberzahn ist promovierter Biochemiker und arbeitet als Partner im Berliner Büro von McKinsey. In seiner Arbeit dreht sich alles um das Thema Gesundheitsinnovation und „Health Tech Business-Building“. Zusätzlich leitet Tobias Silberzahn das globale Health Tech Network, ein Netzwerk von über 1.800 CEOs/Gründern digitaler Gesundheitsfirmen, 250 Investoren und 300 Corporates, und ist Mitherausgeber des jährlichen „eHealth Monitors“, einem Buch zur Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems im MWV-Verlag. Innerhalb von McKinsey leitet Tobias Silberzahn ein präventives Gesundheitsprogramm, das die Themen Schlaf, Ernährung, Fitness und Stressmanagement abdeckt.