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Unser Konzept in der Gesamtschau

Die nationale Gesundheitsplattform steht in unserer Vision für eine vertrauenswürdige Informationsarchitektur im Gesundheitswesen, die den Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen erleichtert und die Verfügbarkeit qualitativ hochwertiger Informationen verbessert. Dieser Beitrag erfasst das von uns konzipierte digitale Ökosystem aus der Vogelperspektive und beschreibt die wichtigsten Akteure, Rollen und Prozesse.

Der Kernservice des Ökosystems ermöglicht eine personalisierte Zusammenstellung von qualitätsgesicherten Informationen und Services, die dem individuellen Informationsbedarf im Zeitverlauf folgen (vgl. Entdecken statt suchen: Prototyp für eine nationale Gesundheitsplattform). So erhalten Patientinnen und Patienten immer die passende Information zum richtigen Zeitpunkt. Durch die Zusammenführung von Inhalten zertifizierter Anbieter ermöglicht die Plattform eine gezielte Auswahl und Bereitstellung vertrauenswürdiger Informationen und Dienste. Basierend auf individuellen Kontextfaktoren der Nutzerinnen und Nutzer, wird diese Auswahl dann speziell auf den situativen Unterstützungsbedarf zugeschnitten (vgl. Informationsvermittlung als Prozess begreifen).

Diese prozesshafte Begleitung mit maßgeschneiderten Informationen und Serviceangeboten unterstützt informierte Entscheidungen, fördert die Gesundheitskompetenz und leistet so einen wichtigen Beitrag zum Umgang mit der eigenen Gesundheit (vgl. Gesundheitskompetenz: Herausforderung der Zukunft). Die Realisierung dieser Produktvision erfordert jedoch weit mehr, als lediglich eine technische Plattform mit algorithmischen Systemen bereitzustellen: Es braucht vor allem das konstruktive Zusammenspiel und die Interaktion zwischen einer Vielzahl von Akteuren und Playern. Diese bilden gemeinsam das digitale Ökosystem rund um die nationale Gesundheitsplattform, tragen zur Zielerreichung bei und profitieren von ihrer Teilnahme (vgl. Nutzenmodell für eine nationale Gesundheitsplattform).

Vermittlung vertrauenswürdiger Gesundheitsinformationen und -services

Ein Kernelement der Plattform bilden die qualitätsbasierte Auswahl von Informations- und Serviceanbietern sowie die Vermittlung vertrauenswürdiger Informations- und Serviceangebote im Gesundheitswesen. Die redaktionelle Erstellung eigener Informationen zählt ausdrücklich nicht dazu – im Kontext eines Ökosystems ist es entscheidend, dass der Initiator und Betreiber einer digitalen Plattform nicht alle Funktionalitäten und Services selbst entwickelt. Stattdessen sollte im Mittelpunkt stehen, Grundlagen zu schaffen, auf deren Basis Partner ihre Dienste und Applikationen in das Ökoystem einbringen können. Die Plattform produziert also keine eigenen Inhalte und Angebote, sondern nimmt eine Vermittlerfunktion für kontextspezifische Gesundheitsinformationen und -services ein.

Dieses sogenannte „Brokering-Prinzip“ beruht auf der Rolle des Vermittlers zwischen Angebot und Nachfrage. Der „Broker“ stellt die Infrastruktur zur Verfügung und bietet eine nutzerfreundliche Schnittstelle, um beide Seiten zusammenzubringen. In diesem Zusammenhang bieten Plattformen oft auch Bewertungssysteme an, sprechen Empfehlungen aus oder tragen zur Personalisierung von Angeboten bei. Wir haben diesen Ansatz auf unser Konzept für eine nationale Gesundheitsplattform übertragen. Die Plattform vermittelt also zwischen den Anbietern von Gesundheitsinformationen und digitalen Diensten auf der einen und Patientinnen und Patienten auf der anderen Seite. Dabei ergänzt sie die reine Vermittlungstätigkeit durch eine personalisierte Aufbereitung und bedarfsgerechte Zusammenstellung der verfügbaren Angebote.

Plattformbetreiber

Der Plattformbetreiber übernimmt als zentrale Figur im digitalen Ökosystem eine Vielzahl von Aufgaben, um den reibungslosen Betrieb der Plattform sicherzustellen. Dazu zählt die Bereitstellung der technologischen Infrastruktur wie Software, Server, Datenbanken, Netzwerke, Schnittstellen und viele weitere technische Ressourcen. Zu den Aufgaben gehört aber auch, Plattformregeln zu etablieren, die teilnehmenden Akteure zu vernetzen, Interaktion zu fördern, einen vertrauenswürdigen Interaktionsraum zu schaffen und nicht zuletzt auch die Skalierung und das Wachstum von Plattform und Ökosystem.

Angesichts der vielfältigen Aufgaben und der angestrebten Größe des digitalen Ökosystems ergeben sich für den Plattformbetreiber hohe Anforderungen. Die Trägerorganisation muss unabhängig und bei allen teilnehmenden Akteuren akzeptiert sein. Zudem ist zu berücksichtigen, dass staatliche Institutionen nur bedingt in Frage kommen, denn staatliche Informationstätigkeit unterliegt besonderen rechtlichen Anforderungen (vgl. Staatliches Informationshandeln: Was darf der Staat?). Um hier ein hohes Maß an Rechtssicherheit zu schaffen, ist eine staatsferne, zivilgesellschaftlich verankerte Trägerschaft zu bevorzugen.

Im Fall der nationalen Gesundheitsplattform erscheint es ratsam, bestimmte Aufgaben innerhalb des Ökosystems von unterschiedlichen Gesellschaften bzw. Organen wahrnehmen zu lassen und das Ökosystem als eine Art Dachorganisation zu begreifen. Die Trägerschaft und der Betrieb des digitalen Ökosystems könnten auf unterschiedliche Organisationseinheiten verteilt werden, um der Komplexität und Diversität an Rollenmodellen, Funktionen und Aufgaben gerecht zu werden. Alle beteiligten Organisationen könnten dann in einer gemeinnützigen und unabhängig finanzierten Holdingstruktur zusammengeführt werden (vgl. Trägerschaft: Staatlich oder privat organisiert?).

Informations- und Serviceanbieter

Um ein möglichst breites und vielfältiges Angebot auf der Plattform zu bündeln und die Innovationskraft der unterschiedlichen Player zu konzentrieren, sollte das Ökosystem staatlichen, zivilgesellschaftlichen wie auch kommerziellen Informations- und Serviceanbietern offenstehen. Deren Rolle besteht darin, das jeweils eigene Angebot einzubringen und die Plattform so mit Leben zu füllen. Zu den relevanten Angeboten zählen klassische Informationsportale ebenso wie digitale Services, etwa die Buchung von Arztterminen oder die Suche nach Spezialistinnen und Spezialisten.

Grundvoraussetzung für die Teilnahme am Ökosystem ist die Erfüllung klar definierter Qualitätsanforderungen, die auf Anbieterebene nachgewiesen werden müssen. Hierzu sieht unser Konzept ein Zertifizierungsverfahren vor, das sich auf die Struktur- und Prozessqualität konzentriert (vgl. InfoCure: Qualität sichtbar machen). All jene Anbieter, die über ein gültiges Zertifikat verfügen, können ihre Informationen und Leistungen in das Ökosystem einbringen. Im Ergebnis entsteht ein vertrauenswürdiger Pool aus Informationen und Diensten, die ausschließlich von geprüften Anbietern stammen.

Pfadmodellentwickler

Die Recherche nach vertrauenswürdigen Gesundheitsinformationen gleicht häufig einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen: Die Herausforderung für Patientinnen und Patienten besteht darin, diejenigen Informationen herauszufiltern, die auch tatsächlich zu ihrer aktuellen Situation passen. Die nationale Gesundheitsplattform kann hier Hilfestellung leisten, indem sie personalisierte Informationen mit hoher Passgenauigkeit aktiv anbietet und in einen strukturierten Lern- und Interaktionsprozess, einen sogenannten Patienteninformationspfad (Patient Information Pathway), einbettet (vgl. Informationsvermittlung als Prozess begreifen).

Auf ihrem Informationspfad erhalten die Nutzerinnen und Nutzer der Plattform personalisierte Informationen und Serviceangebote, die der jeweiligen Krankheits-, Bewältigungs- und Versorgungsphase entsprechen (vgl. Entdecken statt suchen: Prototyp für eine nationale Gesundheitsplattform). Je nach Indikation folgen diese Pfade einem bestimmten Muster bzw. Pfadmodell: Während bei der Diagnosestellung zunächst grundlegende Informationen zur Erkrankung benötigt werden, geht es in der Folge meist um das Abwägen konkreter Behandlungsalternativen. Gerade bei chronischen Erkrankungen rückt dann im Zeitverlauf oft auch der Umgang mit der Erkrankung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Derartigen Mustern folgend, lassen sich für einen großen Teil der Erkrankungen erwartbare Verläufe des Informationsbedarfs modellieren. Mit Hilfe solcher Modelle können automatisiert Informationen chronologisch angeordnet und auch solche Informationen angeboten werden, nach denen Patientinnen und Patienten gar nicht aktiv gesucht hätten. Dies könnten etwa Hinweise auf sozialrechtliche Themenstellungen sein, die in der jeweiligen Behandlungsphase relevant sind.

Für die Gestaltung solcher Pfadmodelle braucht es im Ökosystem neben den Anbietern eine weitere Rolle: die der Pfadmodellentwickler. Dabei handelt es sich um qualifizierte Expertinnen und Experten, die Vorlagen für Verläufe des Informations- und Unterstützungsbedarfs definieren. Diese Rolle könnten dezentral unterschiedliche Akteure, etwa Fachgesellschaften oder Selbsthilfeverbände übernehmen. Sie könnten dazu beitragen, dass innerhalb kurzer Zeit eine sehr große Zahl von Pfadmodellen entsteht.

Kontextanbieter

Durch die Modellierung von Vorlagen lassen sich Informationen in einer bestimmten Reihenfolge anordnen. Die Modelle liefern jedoch keine Informationen darüber, an welcher Position im Zeitverlauf sich die Patientinnen und Patienten gerade befinden, welche zusätzlichen Informationsbedarfe möglicherweise auftreten und welche Entscheidungen im Behandlungsverlauf getroffen werden. So variiert der Informationsbedarf erheblich, je nachdem, ob eine Erkrankung beispielsweise konservativ oder operativ behandelt wird.

Um das Angebot wirklich bedarfsgerecht zuschneiden zu können und einen individuellen Informationspfad entstehen zu lassen, ist eine Dynamisierung der Pfadmodelle notwendig. Diese könnte beispielsweise auf der Basis regelmäßiger Selbstangaben der Nutzerinnen und Nutzer erfolgen. Die umfangreiche Erfassung solcher Angaben ist aus Nutzersicht jedoch unkomfortabel, funktioniert in der Praxis nur selten und ist nicht zuletzt auch Teil des Dilemmas bei der Nutzung von Suchmaschinen. Wie aber kann die Plattform „wissen“, welche Informationen ihre Nutzerinnen und Nutzer gerade in diesem Moment benötigen?

Der Schlüssel zu einem passgenauen Angebot liegt darin, die unterschiedlichsten Kontextinformationen zu berücksichtigen, die mit Zustimmung der betreffenden Personen einfach und automatisiert erfasst werden können, um dann passgenaue Gesundheitsinformationen und -services anzubieten (vgl. Ohne Kontext ist alles nichts). Anbieter von Kontextinformationen bilden daher die dritte relevante Akteursgruppe innerhalb des digitalen Ökosystems.

Zu den möglichen Quellen relevanter Kontextinformationen zählt beispielsweise die elektronische Patientenakte, die dem System im Rahmen einer weiterentwickelten Telematikinfrastruktur 2.0 viele wichtige Hintergrundinformationen zum situativen Informationsbedarf der Patientinnen und Patienten liefern könnte. Ebenso könnten Krankenhaus- und Praxisverwaltungssysteme, aber auch Digitale Gesundheitsanwendungen oder Fitness-Tracker als Hinweisquelle herangezogen werden.

Die Kontextinformationen liegen bereits in digitalen Systemen vor und müssten nicht mehr gesondert erfasst werden. Durch ihre Verwertung im digitalen Ökosystem entsteht mit der Personalisierung von Gesundheitsinformationen und relevanten Diensten ein unübersehbarer Patientennutzen: Die Informationslast wird spürbar reduziert, während die Qualität der angebotenen Informationen steigt. Kontextinformationen können auch genutzt werden, um Patientinnen und Patienten proaktiv zu informieren, sie an etwas zu erinnern oder um auf Präferenzen der Informationsaufbereitung individuell eingehen zu können.

Zusammenspiel auf hohem Niveau

Erst das kollaborative Zusammenspiel der unterschiedlichen Teilnehmergruppen ermöglicht ein wirklich nutzerzentriertes Angebot, das in dieser Form einzigartig wäre. Informations- und Serviceanbieter, Pfadmodellentwickler und Kontextanbieter liefern jeweils einen essenziellen Beitrag zum Funktionieren des Ökosystems. Vergleichbar mit einem Puzzle fügen sich ihre Beiträge harmonisch zusammen und ergeben erst in der Summe den eigentlichen Mehrwert.

Um das Vertrauen der Nutzerinnen und Nutzer in die Plattform wachsen zu lassen, muss sie hohen Qualitätsansprüchen gerecht werden. Angesichts der Offenheit für eine große Zahl teilnehmender Akteure ist die Erfüllung dieser Ansprüche jedoch keineswegs trivial. Eine wichtige Säule des Qualitätsmanagements liegt in der bereits erwähnten Zertifizierung von Informations- und Serviceanbietern (InfoCure: Qualität sichtbar machen). Dies allein reicht aber nicht aus, denn die Qualitätssicherung muss alle Prozesse im Ökosystem berücksichtigen. Deshalb müssen auch die Pfadmodellentwickler und die Anbieter von Kontextinformationen klare Qualitäts- bzw. Qualifizierungsstandards erfüllen, die sich je nach Rolle unterscheiden.

LIV – Die leichte, individuelle und vertrauenswürdige Benutzeroberfläche

Die Synergie der teilnehmenden Akteure soll auf der nationalen Gesundheitsplattform einen signifikanten und erlebbaren Mehrwert für Patientinnen und Patienten schaffen. Auf der Produktebene gibt es vermutlich sehr viele unterschiedliche Wege, die zum Ziel führen. Um ein gemeinsames Bild in den Köpfen entstehen zu lassen, haben wir entschieden, einen dieser Wege weiterzudenken und auszuformulieren: Zur Illustration unserer Produktvision haben wir ein prototypisches Design entwickelt, das zeigt, wie die nationale Gesundheitsplattform aus Sicht der Patientinnen und Patienten aussehen könnte (vgl. Entdecken statt suchen: Prototyp für eine nationale Gesundheitsplattform).

Unserer Vorstellung folgend, bietet die Plattform ein exakt auf die Zielgruppe der Patientinnen und Patienten zugeschnittenes User Interface an, das als App wie auch als Webvariante angeboten werden könnte. In unserem prototypischen Entwurf haben wir dem Interface den Namen LIV gegeben – die drei Buchstaben stehen für die Begriffe „leicht“, „individuell“ und „vertrauenswürdig“. LIV ist darauf ausgerichtet, Patientinnen und Patienten bestmöglich zu unterstützen, sowohl proaktiv als auch bei einer gezielten Suche. Das zentrale Gestaltungsprinzip besteht darin, die Informationslast zu reduzieren und gleichzeitig nur Beiträge und Dienstleistungen hoher Qualität anzubieten. Die Inhalte werden daher in hohem Maße personalisiert und in Abhängigkeit von verfügbaren Kontextinformationen eingespielt.

LIV ist der Teil der nationalen Gesundheitsplattform mit der höchsten Sichtbarkeit, weil er im Fall einer Umsetzung Millionen von Menschen zur Verfügung stünde. Darüber hinaus bedarf es noch weiterer Bestandteile, um ein reibungsloses Zusammenspiel der Akteursgruppen zu ermöglichen. So müssen weitere Benutzeroberflächen für die Ökosystempartner geschaffen werden, etwa um neue Gesundheitsinformationen und -services zu registrieren oder auch um Vorlagen für Patienteninformationspfade zu erzeugen. Zudem braucht es Integrationsschnittstellen, um andere IT-Systeme zum Beispiel der Kontextanbieter anzubinden (vgl. Erste Gedanken zur technischen Struktur der nationalen Gesundheitsplattform).

Finden, verstehen, beurteilen und anwenden

Das Produktkonzept für die nationale Gesundheitsplattform verfolgt vor allem ein Ziel: Die Plattform soll den Umgang mit Gesundheitsinformationen erleichtern und die Gesundheitskompetenz fördern. Gesundheitskompetenz bildet die Summe der Fähigkeiten, die wir benötigen, um Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden. In ganz Europa deutet die Studienlage darauf hin, dass die digitale Informationsflut für etwa die Hälfte der Bevölkerung eine Herausforderung darstellt. Der Kernservice der von uns konzipierten nationalen Gesundheitsplattform greift diesen Befund auf und wirkt auf allen vier Ebenen der Gesundheitskompetenz.

Finden: Nutzerinnen und Nutzer müssen nicht mehr nach passenden Informationen suchen. Stattdessen werden relevante Inhalte und Services proaktiv angeboten. Durch eine personalisierte Filterung des Informationsangebots und die Umkehr des Vermittlungsprinzips von „Push“ zu „Pull“ werden Suchbewegungen spürbar erleichtert und Irrwege im Netz erspart.

Verstehen: Das Ökosystem definiert Mindestanforderungen an die Verständlichkeit von Inhalten oder auch die Bedienbarkeit digitaler Anwendungen. Zudem lässt sich das Schwierigkeitsniveau von Texten automatisiert bestimmen. Auf der Basis von Angaben zu ihrer individuellen Gesundheitskompetenz können die Nutzerinnen und Nutzer Informationen mit einem passenden Schwierigkeitsgrad auswählen.

Beurteilen: Ein Grundsatz des Ökosystems besteht in einer qualitätsorientierten Auswahl der Anbieter von Informationen und digitalen Services. Durch die vorgesehene Zertifizierung auf nationaler Ebene werden Anbieter in regelmäßigen Abständen überprüft. Im Ergebnis entsteht ein „Vertrauensraum“ für Patientinnen und Patienten, in dem das Risiko von Fehlinformationen und Datenmissbrauch minimiert wird.

Anwenden: Informationen können nur handlungs- oder entscheidungsrelevant werden, wenn im Anschluss an den Wissenserwerb ein konkretes Planungs- oder Handlungsangebot steht. Die individuelle Zusammenstellung von Informationen und digitalen Services erleichtert es den Nutzerinnen und Nutzern, das eigene Verhalten anzupassen, gesunde Entscheidungen zu treffen und diese in die Tat umzusetzen.

Weitere Nutzungsmöglichkeiten der nationalen Gesundheitsplattform

Neben dem eigentlichen Kernservice bietet die Idee einer nationalen Gesundheitsplattform noch viele Möglichkeiten, zusätzlichen Nutzen zu erzeugen und weitere Akteure ins digitale Ökosystem einzubinden:

Distributionspartner: Die Gesundheitsinformationen und -services, die qualitätsgesichert auf der nationalen Gesundheitsplattform bereitgestellt werden, können auch über weitere Vertriebskanäle verbreitet und ausgespielt werden. Distributionspartner könnten beispielsweise andere Plattformen sein, die Gesundheitsinformationen und -services weiterverteilen. In Frage kämen auch Digitale Gesundheitsanwendungen, die kuratierte Informationen benötigen und diese dann direkt in ihre Lösungen integrieren.

Whitelabel-Lösungen: Es wäre grundsätzlich möglich, LIV als User Interface für Patientinnen und Patienten auch als sogenannte Whitelabel-Lösung zur Verfügung zu stellen. Interessierte Partner könnten die Anwendung auf diese Weise in eigene Lösungen einbinden und ihr eigenes Branding integrieren. Dies würde die Reichweite von LIV zusätzlich erhöhen.

Anonymisierte Daten für die Forschung: Auf der nationalen Gesundheitsplattform werden Daten verarbeitet, die direkten Patientennutzen erzeugen – und darüber hinaus noch weiteren Nutzen stiften könnten. Über aggregierte Auswertungen, die Bereitstellung vollständig anonymisierter Daten oder die Erzeugung synthetischer Datensätze könnte die Plattform einen wertvollen Beitrag für die Versorgungsforschung leisten.

Internationalisierung: Auch wenn die hier skizzierte Gesundheitspattform in einem nationalen Rahmen konzipiert wurde, ließe sich die Idee sehr gut international skalieren. Trotz aller Besonderheiten der einzelnen Gesundheitssysteme wären Grundsätze und Prinzipien, die unterschiedlichen Rollen und sogar die Software auf andere Länder übertragbar. Mittel- bis langfristig könnte so ein internationales Netz aus national verankerten Plattformen entstehen, die gemeinsamen Standards folgen, Erfahrungen und Daten austauschen und eine globale Infrastruktur des Vertrauens entstehen lassen.

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    Ohne Kontext ist alles nichts

    Dr. Matthias Naab
    Dr. Marcus Trapp

    Wer ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt, muss meist viele Fragen zur Krankengeschichte beantworten. Ärztinnen und Ärzte stellen diese Fragen, um die Zahl der möglichen Diagnosen einzugrenzen. Diese sogenannte Anamnese ist ein fester Bestandteil der ärztlichen Diagnostik und die darin enthaltenen Kontextinformationen helfen, im nächsten Schritt die passende Behandlung zu finden. So lassen Kontextinformationen in den unterschiedlichsten Bereichen unseres Lebens Nutzen entstehen. Dieser Gedanke bildet auch das Leitprinzip der hier vorgestellten Konzeption für eine nationale Gesundheitsplattform.

    Nicht nur im medizinischen Umfeld, auch im Alltagsleben ist es sehr hilfreich, etwas über den Kontext zu wissen, um bestimmte Probleme lösen oder anderen Menschen Ratschläge geben zu können. Wenn uns jemand nach dem Weg zu einem bestimmten Ziel fragt, müssen wir zumindest wissen, wo sich die Person gerade befindet und welche Verkehrsmittel ihr zur Verfügung stehen. Fragt uns jemand nach Beziehungstipps, sollten wir ebenfalls etwas zur aktuellen Partnerkonstellation und Beziehungssituation wissen.

    Der Blick auf die uns umgebende IT-Welt lässt dies noch deutlicher werden. Wenn wir mit Software-Systemen arbeiten, die keinerlei Kontext einbeziehen, erscheinen sie uns oft limitiert. So spucken etwa die Basisversionen von Suchmaschinen, denen kein Kontext zur Verfügung steht, riesige Mengen an Ergebnissen aus. Die Suche nach „Restaurant“ führt dann unter anderem zu Erklärungstexten, die den Begriff Restaurant definieren. Das mag für manche Suchintention sogar das richtige Ergebnis sein, doch die meisten Menschen suchen nach „Restaurant“, wenn sie wissen möchten, welche Restaurants sich in der Nähe befinden.

    Bezieht die Suchmaschine den eigenen Kontext automatisch ein, so wird das Ergebnis plötzlich vielfach bedeutender: Die aktuelle Position führt dann zu Restaurantvorschlägen in der Nähe. Berücksichtigt die Software noch weitere Aspekte wie Uhrzeit oder persönliche Essenspräferenzen, so wird das Ergebnis immer hilfreicher und schränkt die Vorauswahl auf passende Restaurants ein, die gerade geöffnet sind und zu den individuellen Vorlieben passen. Alternativ bestünde immer die Möglichkeit, die gesammelten Kontextinformationen selbst einzugeben, etwa den Ort oder den Zeitpunkt des Besuchs. Solche Nutzerangaben würden dann ebenfalls gute Ergebnisse liefern, gleichzeitig aber auch den Bedienungsaufwand erhöhen.

    Suchmaschinen sind nur ein Beispiel; es gibt zahlreiche weitere Softwareapplikationen, die durch die Einbeziehung von Kontextinformation gleichermaßen bessere Ergebnisse liefern: Seien es Navigationssysteme, die für eine zuverlässige Navigation kontinuierlich den aktuellen Standort benötigen, seien es Fitnesstracker, die Empfehlungen aus zahlreichen beobachteten Körperwerten ableiten, oder seien es Partnervermittlungsportale, die nur vielversprechende Vorschläge machen können, wenn Eigenschaften und Vorlieben geteilt werden.

    Die Vielfalt von Softwareapplikationen, die mithilfe von Kontext arbeiten und auf diese Weise Nutzen bringen, hat dafür gesorgt, dass die überwältigende Mehrheit der Nutzerinnen und Nutzern damit grundsätzlich vertraut ist und entsprechende Kontextfaktoren mit den Softwaresystemen teilt, um in den Genuss individuell zugeschnittener Angebote zu kommen.

    Als intelligent und besonders hilfreich wahrgenommene Features basieren so gut wie immer auf der Verwendung von Kontextinformationen und lassen die Ansprüche der Nutzerschaft immer weiter wachsen. Wer neue, erfolgreiche Dienste erschaffen möchte, setzt daher auf einen höheren Automatisierungsgrad sowie bessere Nutzungserfahrung und führt dazu vorhandene Informationen und Kontextinformationen zusammen.

    Erst Kontext ermöglicht echten Patientennutzen

    Ein zentrales Ziel der nationalen Gesundheitsplattform besteht darin, Patientinnen und Patienten vertrauenswürdige Gesundheitsinformationen und -services anzubieten, die optimal für deren aktuelle gesundheitliche Situation ausgewählt und aufbereitet sind.

    Die Abbildung unten zeigt eine minimalistische Form der nationalen Gesundheitsplattform. Hier werden Informations- und Serviceangebote an Patientinnen und Patienten vermittelt, ohne dass explizit Kontextinformationen von außerhalb einfließen.

    Die nationale Gesundheitsplattform soll einen möglichst hohen Nutzen für Patientinnen und Patienten erzeugen, indem verlässliche Gesundheitsinformationen und -services so passend wie möglich zur aktuellen gesundheitlichen Situation angeboten werden. Um dies leisten zu können, müssten notwendige Kontextinformationen manuell von der jeweilige Patientin oder dem Patienten eingegeben werden. Diese Lösung ist in der heutigen Zeit jedoch kaum noch akzeptabel, denn sie würde nutzerseitig hohe Aufwände erzeugen und daher keine nennenswerte Verbreitung finden. Allerdings ist es unerlässlich, den jeweiligen Kontext von Patientinnen und Patienten als Grundlage der Auswahl und des Angebots einzubeziehen.

    Die Kernidee der hier entworfenen Plattform besteht darin, Kontextinformationen, die schon an unterschiedlichen Stellen in anderen IT-Systemen (z. B. in Praxisverwaltungssystemen, in der elektronischen Patientenakte oder in Health Trackern) verfügbar sind, für die Auswahl von Informationen und digitalen Services auf der nationalen Gesundheitsplattform nutzbar zu machen. Somit können Patientinnen und Patienten selbstbestimmt Kontextinformationen zu ihrer Person aus anderen IT-Quellen für ein besonders hilfreiches und einfaches Nutzungserlebnis einfließen lassen. Die so erzielbare Qualität in den Ergebnissen könnte künftig ein starkes Alleinstellungsmerkmal der Plattform bilden.

    Wie aus Kontextinformation konkreter Patientennutzen entsteht

    Nur wenn es gelingt, Services und Informationen automatisch und mit hoher Passung zum individuellen Kontext bereitzustellen, werden Nutzende sie akzeptieren. Deshalb soll die nationale Gesundheitsplattform Informationen in einen strukturierten Lern- und Interaktionsprozess einbetten und so eine Vielzahl personalisierter Patienteninformationspfade entstehen lassen (vgl. Entdecken statt suchen).

    Als Patienteninformationspfad wird ein konkreter Interaktionsdurchlauf einer Patientin oder eines Patienten verstanden, bei dem immer passend zum Kontext geeignete Services und Informationen angeboten werden und somit zielgerichtet Unterstützung geleistet wird, die als nutzbringend wahrgenommen wird. Ausgehend von der Vielzahl möglicher Informationspfade, stellt sich die Frage, wie diese Art der Unterstützung automatisch erzeugt werden kann. Selbst für Fachleute ist es herausfordernd, aus einer riesigen Menge von Informations- und Serviceangeboten die richtige Auswahl zu treffen.

    Die Lösung liegt in einer neu geschaffenen Modellierungssprache. Damit können Expertinnen und Experten ein Pfadmodell als Vorlage für den im Krankheitsverlauf auftretenden Informationsbedarf modellieren. Die so entstehenden Pfadmodelle berücksichtigen unterschiedliche Aspekte wie den Behandlungsverlauf im medizinischen Versorgungssystem, aber auch unterschiedliche Phasen der Krankheitsbewältigung oder leistungsrechtliche Fragen.

    Pfadmodellentwickler

    Die Entwicklung der Pfadmodelle erfordert noch eine weitere Rolle im digitalen Ökosystem: die der Pfadmodellentwickler. Dabei handelt es sich um Expertinnen und Experten, die den erwartbaren Informationsbedarf zu einer Indikation auf Basis typischer Krankheits-, Behandlungs- und Bewältigungsverläufe beschreiben. Der Community-Ansatz kann an dieser Stelle dazu beitragen, eine schnell wachsende und detaillierte Wissensbasis in der nationalen Gesundheitsplattform entstehen zu lassen.

    Bei der Modellierung spielt die Verarbeitung von Kontextinformationen eine zentrale Rolle: Der modellierte Verlauf wird mit den im Zeitverlauf erwartbaren Informationsbedarfen verknüpft. Zu bestimmten Kontexten (z. B. konservative versus operative Therapie) wird dann festgelegt, welche Gesundheitsinformationen und -services hier angeboten werden sollten. Auf diese Weise findet das Fach- und Erfahrungswissen ganz unterschiedlicher Akteure und wissenschaftlicher Disziplinen seinen Weg in die Informationspfade.

    Dieser Einsatz einer Experten-Community bildet einen Grundpfeiler der Qualitätssicherung und lässt modelliertes Wissen entstehen, das nachprüfbar und erklärbar ist. Ausgehend von Informationen zum situativen Kontext, werden die modellierten Vorlagen dynamisiert und erweitert. Durch diese Kombination aus Mensch und Technologie dürfte im Gegensatz zu rein KI-basierten Lösungen das Vertrauen in eine nationale Gesundheitsplattform gestärkt werden.

    Im Falle einer Umsetzung würden auf der nationalen Gesundheitsplattform millionenfach und automatisch personalisierte Patienteninformationspfade erzeugt und genutzt. Dabei werden durch die Pfadmodelle konkrete und patientenspezifische Kontextinformationen zur jeweils aktuellen Auswahl der angebotenen Gesundheitsinformationen und -services verwendet. Somit bilden die mit Fach- und Erfahrungswissen aufgeladenen Pfadmodelle das fehlende Puzzlestück, um Patientinnen und Patienten ein individuell zugeschnittenes Informationsangebot unterbreiten zu können.


    Was ist Kontext eigentlich genau? Ordnung im Begriffswirrwarr

    Bisher wurde der Begriff „Kontextinformationen“ in diesem Artikel abstrakt verwendet. Wenn über Daten und Informationen gesprochen wird, kommt es jedoch häufig zu Missverständnissen. Einerseits wird meist nicht unterschieden, um welche Daten und Informationen es sich genau handelt, und andererseits wird zu wenig über Einsatzzwecke, entstehende Nutzen und resultierende Schutzbedürfnisse gesprochen. Deshalb soll der Begriff „Kontext“ hier näher erläutert und abgegrenzt werden.

    Wenn in diesem Text von „Kontext“ die Rede ist, so meint dies Informationen über den jeweiligen Kontext einer bestimmten Person, die in IT-Systemen zur Verfügung stehen, um Angebote zu personalisieren. Zu Kontextinformationen zählen beispielsweise

    • grundsätzliche Personeneigenschaften: z. B. Alter, Geschlecht, Gewicht
    • Präferenzen der Patientinnen und Patienten: z. B. Präferenzen zu Informationsanbietern, Präferenzen zu Eigenschaften von Informationen (Sprache, Verständlichkeit etc.)
    • Informationen zum Gesundheitsstatus: z. B. Indikationen, Einnahme von Medikamenten, Nutzung von Gesundheitsdienstleistungen
    • Aktuelle Informationen: z. B. zu „Ereignissen“ wie der Verordnung eines neuen Medikaments, der Einweisung in ein Krankenhaus oder zu situativen Stimmungen und dem aktuellen Befinden
    • Informationen über Nutzung in der nationalen Gesundheitsplattform: z. B. schon gelesene Artikel, Feedback zu Artikeln

    Andere Informationen mit hoher Relevanz, die aber nicht zu den Kontextinformationen zählen, sind beispielsweise die verlässlichen Gesundheitsinformationen (z. B. erklärende Artikel zu einer bestimmten Krankheit). Diese werden von den Anbietern bereitgestellt und weisen keinerlei Personenbezug auf.

    Kontextinformationen haben in der hier skizzierten nationalen Gesundheitsplattform immer nur den direkten Zweck, den Nutzen für Patientinnen und Patienten zu erhöhen. Darauf baut auch der Schutz dieser Daten auf.


    Kontextinformationen in vertrauenswürdigen Händen

    Grundsätzlich könnten unterschiedliche Akteure im Markt ein digitales Ökosystem etablieren und mit dem Einverständnis von Patientinnen und Patienten ihre spezifischen Kontextinformationen in einer Plattform zusammenführen und weiterverarbeiten. Jeder Plattformbetreiber wird jedoch seine eigenen Wertvorstellungen bei der Gestaltung seiner Plattform einbringen. Bei der Konzeption der nationalen Gesundheitsplattform wurde daher besonders viel Wert darauf gelegt, eine vertrauenswürdige Trägerstruktur zu etablieren, die für einen verantwortungsvollen Umgang mit den sensiblen Kontextinformationen steht (vgl. Gesundheitsökosysteme erfolgreich etablieren).

    Kontextinformationen sollen immer nur mit dem Ziel verarbeitet werden, bessere Nutzungserfahrungen und bessere Informations- und Serviceangebote zu liefern. Genau darauf liegt der Fokus und deshalb werden diese Informationen nicht für ewige Zeit oder für andere Verwendungszwecke vorgehalten. Sofern die Datennutzung zu anderen Zwecken nicht explizit freigegeben wurde, werden die Daten nur so lange gespeichert, wie es für die Erfüllung des Zwecks notwendig ist.

    Die Patientin oder der Patient sollte über ein differenziertes Einwilligungssystem jederzeit die volle Kontrolle über die Verwendung personenbezogener Kontextinformationen behalten. Hierzu sollte es zu jeder Zeit möglich sein, die unterschiedlichen Anbieter und Quellen von Kontextinformationen zu steuern.

    Die gesamte Konstruktion zielt darauf ab, wertvollen Patientennutzen zu stiften und diesen auch klar in Richtung aller Akteure im Gesundheitswesen zu kommunizieren. Maßgeblich ist, dass durch den verantwortungsbewussten und transparenten Einsatz von Gesundheitsdaten Wohlfahrtseffekte und individuelle Nutzen entstehen können. Natürlich ist der Schutz personenbezogener Daten dabei stets zu gewährleisten.

    Kontext macht den Unterschied

    Kontext ist ein entscheidender Faktor, um Softwarelösungen nützlich und angenehm zu gestalten. Das gilt grundsätzlich für alle Bereiche und natürlich auch für das Gesundheitswesen. Während die Menschen diese Vorteile in vielen anderen Bereichen schon länger genießen, stoßen sie im Gesundheitswesen immer wieder auf fraktionierte Systeme, die den Kontext nicht oder nur unzureichend berücksichtigen.

    Mit den Patienteninformationspfaden könnte ein unmittelbar einleuchtender Nutzen für Patientinnen und Patienten geschaffen werden, denn der auf Kontextinformationen basierende, personalisierte Ansatz ermöglicht individuelle Nutzungserfahrungen und spart viel Zeit durch eine Angebotsauswahl mit hoher Passgenauigkeit.

    Autoren

    Dr. Matthias Naab und Dr. Marcus Trapp sind Co-Founder von Full Flamingo. Sie helfen Unternehmen pragmatisch, die wichtigen Entscheidungen in der digitalen Transformation abzusichern. Sie waren bis 2022 am Fraunhofer IESE als Führungskräfte tätig und haben das Thema „Digitale Ökosysteme und Plattformökonomie“ mit aufgebaut und verantwortet.

     

     

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      Informationsvermittlung als Prozess begreifen

      Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler
      Dr. Inga Münch

      Viele Anbieter von Gesundheitsinformationen verfolgen gute Absichten. Sie möchten das Gesundheitsverhalten ihrer Adressaten positiv beeinflussen, Hilfestellung bei der Krankheitsbewältigung leisten oder Behandlungsentscheidungen unterstützen. Im digitalen Zeitalter verfehlen viele dieser Informationen jedoch das Nadelöhr der Aufmerksamkeit und verhallen wirkungslos in der ständig wachsenden Informationsflut. Kontextsensitive Informationspfade könnten Abhilfe schaffen und Streuverluste verringern.

      Die Produktion und Bereitstellung von Gesundheitsinformationen folgen nicht selten der Vorstellung, dass Informationen von einem Sender über einen Kanal an einen Empfänger übermittelt werden, der diese dann versteht und in neues Wissen überführt. Ist eine Nachricht einmal übermittelt, kann sie ihre Wirkung entfalten, Entscheidungen prägen oder das Verhalten beeinflussen. Diese Vorstellung des sogenannten Sender-Empfänger-Modells aus den 1940er Jahren wird der Wirklichkeit jedoch kaum gerecht, denn die Aneignung von Informationen ist kein punktuelles Ereignis, sondern ein hochkomplexer Lernprozess mit vielen Einflussfaktoren.

      Eine wissenschaftliche Disziplin, die sich dieser Komplexität des Wissens- und Kompetenzerwerbs seit jeher widmet, sind die Erziehungswissenschaften: Die pädagogische Didaktik hat das einfache Sender-Empfänger-Modell schon immer in Frage gestellt und wendet sich gegen vermeintliche „Eintrichterungstheorien“. Sie begreift Lernen stattdessen als einen individuellen Prozess der Selbstorganisation von Wissen. Der Erwerb von Wissen und Kompetenzen wird dabei niemals als Momentaufnahme, sondern als fortlaufender und planbarer Prozess verstanden, der sich auf der kognitiven wie emotionalen Ebene gleichermaßen ereignet. Dieser Vermittlungsprozess ließe sich bildhaft als Lern- oder Informationspfad beschreiben, der auch Hinweise darauf liefert, welche Informationen zu welchem Zeitpunkt benötigt werden.

      „Wissen kann nie als solches von einer Person zur anderen übermittelt werden. Die einzige Art und Weise, in der ein Organismus Wissen erwerben kann, besteht darin, es selbst aufzubauen oder für sich selbst zu konstruieren.“

      Ernst von Glasersfeld (1987)

      Selektive Informationsverarbeitung

      Die menschlichen Aufmerksamkeitsressourcen sind begrenzt und so werden längst nicht alle Informationen, die auf uns einströmen, bewusst wahrgenommen und verarbeitet. Damit Menschen auf Informationen aufmerksam werden, müssen diese situativ von Bedeutung sein und in den jeweiligen Kontext passen. Das gilt auch und insbesondere für Gesundheitsinformationen, denn Patientinnen und Patienten durchlaufen mit der Zeit unterschiedliche Krankheitsstadien, die mit einem sich ständig wandelnden Informationsbedarf einhergehen.

      Solche Stadien lassen sich etwa im Hinblick auf den individuellen Behandlungspfad beschreiben. Dieser beginnt häufig mit der Akutversorgung und einer ersten Diagnosestellung, die bei Patientinnen und Patienten zunächst den Bedarf nach grundlegenden Informationen zur jeweiligen Erkrankung wecken dürfte. In der nächsten Phase geht es um Therapieentscheidungen und möglicherweise auch die Auswahl einer spezialisierten Einrichtung für die weitere Behandlung. Während der Rehabilitation oder Nachsorge interessieren sich die Betroffenen weniger für Informationen zu Diagnose- und Behandlungsverfahren als vielmehr für Informationen und Unterstützung beim Umgang mit der jeweiligen Erkrankung.

      Die Erkenntnisse zum Einfluss unterschiedlicher Stadien auf die selektive Aufmerksamkeit kann auch mit dem klassischen Modell der Krankheitsbewältigung in Beziehung gesetzt werden. Demnach folgt der Diagnose einer schweren Erkrankung zunächst eine von Angst und Unruhe geprägte Phase, in der die Diagnose nicht selten verleugnet wird. Häufig folgt dem ersten Schock eine Phase der Wut und anschließend eine der Verzweiflung und persönlichen Verletzlichkeit. Nach einem inneren Aushandlungsprozess wird schließlich auf der letzten Stufe die Erkrankung akzeptiert und angenommen. Die beschriebenen Phasen sowie die damit verbundenen Affekte können die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen maßgeblich beeinflussen.

      Gesundheitsinformation werden oft auch mit dem Ziel erstellt, das individuelle Gesundheitsverhalten positiv zu beeinflussen oder ein Risikoverhalten zu minimieren. Hinweise auf die Frage, welche Informationen hier zu welchem Zeitpunkt von Bedeutung sind, liefern die gesundheitswissenschaftlichen Stadien- und Stufenmodelle des Gesundheitsverhaltens. Auch diese Modelle postulieren, dass Menschen auf dem Weg zu einer Verhaltensänderung immer eine Entwicklung mit verschiedenen Stufen durchlaufen.

      Zwischen Anspruch und Realität

      Die Stadien- und Stufenmodelle aus den Gesundheitswissenschaften machen deutlich, wie wichtig eine strukturierte und prozesshaft angelegte Informationsvermittlung ist, um informierte Entscheidungen zu ermöglichen und die individuelle Gesundheitskompetenz zu fördern. Sie legen nahe, dass immer nur solche Informationen angeboten werden sollten, die in der jeweiligen Krankheits-, Bewältigungs- und Versorgungsphase auch tatsächlich relevant sind.

      Die Realität ist jedoch eine andere: Meist werden Patientinnen und Patienten aus ganz unterschiedlichen Quellen mit Informationen unterschiedlicher Qualität überflutet. Sie führen Aufklärungsgespräche, erhalten Informationen über die Trefferlisten der Suchmaschinen, geraten in die Informationsblasen und Echokammern der sozialen Netzwerke, lesen Informationsbroschüren von Krankenversicherungen und erhalten engagierte Ratschläge aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis. All das passiert in der Regel parallel und unkoordiniert.

      „Wer im Internet nach Informationen sucht, dem geht es so wie jemandem, der um ein Glas Wasser bittet und aus einem Feuerwehrschlauch bedient wird und dabei nicht weiß, wo das Wasser herkommt.“

      Michael Scholz (WHO) 2003

      Die bislang praktizierte, unkoordinierte Bereitstellung und Verbreitung von Gesundheitsinformationen ist angesichts der Informationsflut im digitalen Zeitalter keine erfolgversprechende Strategie, um den Menschen gesunde Entscheidungen zu ermöglichen. Im Jahr 2019 forderte auch der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz die „Schaffung eines systematischen Informationsmanagements, das sich über den gesamten Krankheitsverlauf erstreckt“. Diesem Gedanken folgend, sollte die Informationsvermittlung in einen strukturierten Lernpfad eingebettet werden, der jeweils dem situativen Informations- und Unterstützungsbedarf sowie dem individuellen Kontext gerecht wird (vgl. Entdecken statt suchen: Prototyp für eine nationale Gesundheitsplattform).

      Literatur

      Ajzen I, Fishbein M (1980). Understanding Attitudes and Predicting Social Behavior Englewood Cliffs, NJ.

      Bandura A (1977). Self-efficacy: Toward a Unifying Theory of Behavioral Change. Psychological Review 84 (2). 191–215.

      Becker M H (1974). The Health Belief Model and Personal Health Behavior. Thorofare, NJ.

      Betsch T, Funke J, Plasser H (2011). Denken – Urteilen, Entscheiden, Problemlösen. Berlin.

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      Autor/Autorin

      Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler ist als Co-Director mitverantwortlich für das Gesundheitsprogramm der Bertelsmann Stiftung. Zuvor arbeitete er als geschäftsführender Gesellschafter der Patientenprojekte GmbH, einer auf den Bereich der Patientenkommunikation spezialisierten Organisations- und Unternehmensberatung. Von 2011 bis 2015 war Schmidt-Kaehler Bundesgeschäftsführer der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). Er ist Mitglied im Expertenrat des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz.

      Dr. Inga Münch verantwortet das Projekt „Trusted Health Ecosystems“ der Bertelsmann Stiftung. Zuletzt hat sie in verschiedenen Projekten an den Schnittstellen Patientenzentrierung und digitale Gesundheit gearbeitet. Sie ist Gesundheitswissenschaftlerin und hat zum Konzept gesundheitskompetenter Organisationen promoviert. Zuvor hat sie in der Forschung an wissenschaftlichen Projekten im Bereich Gesundheitsbildung, Patientenorientierung und Gesundheitssystemforschung gearbeitet.

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